Debatte Rede an Europa Boehm Nahost-Konflikt
Der Philosoph Omri Boehm hält am Dienstag seine mit Spannung erwartete "Rede an Europa": Das menschliche Zusammenleben möchte er, als treuer Gefolgsmann Kants, durch die "Idee der Freundschaft" reguliert wissen.
IMAGO/dts Nachrichtenagentur

In seinem Buch Radikaler Universalismus nahm er allzu beflissenen Vertretern der Identitätspolitik mit blendenden Argumenten den Wind aus den Segeln. Jetzt hat der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm vorab heftige Kritik geerntet: Er hält am Dienstagabend auf dem Wiener Judenplatz eine "Rede an Europa". Die von IWM und Wiener Festwochen initiierte Ideenspende finde an einem angeblich "unpassenden" Ort statt. Ariel Muzicant (Ex-Präsident der IKG) sprach gar von einer "falschen Rede am falschen Ort". Der Grund: Boehm vertritt unbeirrt die Zukunftsvision eines binationalen Staates Israel. Was aber meint der von ihm vertretene Universalismus?

STANDARD: In Ihrem Buch Radikaler Universalismus erzählen Sie unter Berufung auf Kant eine alttestamentarische Bibelszene neu: Im Grunde weigert Abraham sich, seinen Sohn Isaak zu opfern. Die Idee absoluter Gerechtigkeit rangiert noch oberhalb der Allmacht Gottes. Wird die Idee universeller Gerechtigkeit erst durch Ungehorsam sichtbar gemacht?

Boehm: Es ist nicht der Ungehorsam, der den Ausschlag gibt. Die Idee absoluter Gerechtigkeit zeigt sich nicht durch ihn. Zum Gehorchen gehören immer verschiedene Autoritäten. Erst durch eine weitere übergeordnete Autorität wird Ungehorsam möglich. Sind wir ungehorsam, gehorchen wir jemandem. Auch wenn Abraham gegenüber Gott ungehorsam ist, gehorcht er einer noch höheren Instanz. Diese steht oberhalb von Gott.

STANDARD: Eben die absolute Gerechtigkeit.

Boehm: Es stellt sich die Frage, ob es dann noch Gehorsam ist. Hier kommt Immanuel Kant ins Spiel: Wenn ich autonom bin, gehorche ich etwas Unbedingtem, aber nicht im Sinne einer externen Autorität, denn ich gehorche den Regeln, die ich mir selbst auferlege. Kant lehrte uns, dass nur ein Gesetz, das wir uns selbst geben, absolut sein kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich lediglich meinem subjektiven Willen folge oder irgendeiner Laune. Indem ich mir ein Gesetz gebe und dem kategorischen Imperativ folge, folge ich meinem eigenen Willen. Das ist nicht Gehorsam.

STANDARD: Das Allgemeine, vermittelt durch die persönliche Einsicht in seine Notwendigkeit?

Boehm: Genau. Die Wesen, die fähig sind, sich selbst ein Gesetz aufzuerlegen, nämlich die Menschen, besitzen Würde.

STANDARD: Sie halten in Wien eine "Rede an Europa". Wie schafft man es auf europäischer Ebene, aus lauter Gleichgestellten eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten herzustellen? Von Menschen guten Willens?

Boehm: Die Idee der Egalität ist wegen der Würde von größter Wichtigkeit. Dass die menschliche Würde unantastbar sei, setzt Gleichheit voraus. Das betrifft vor allem unsere Grundrechte. Aber Gott sei Dank sind wir nicht alle gleichgesinnt. Wenn wir die Würde anderer achten, tun wir das auch und gerade dann, wenn wir nicht eines Sinnes sind. Wenn eine Person etwas vollständig anderes denkt als ich, würdige ich sie am besten, indem ich Folgendes anerkenne: Ihre Zwecke sind ganz andere als meine, aber sie werden von mir als wichtig betrachtet. Deshalb ist die Idee der Freundschaft, die ich in meinem Vortrag in Leipzig für die Europäische Verständigung zu erläutern versucht habe, von entscheidender Bedeutung: Sie zeigt uns, was es heißt, die Zwecke eines anderen als wichtig zu erachten, auch wenn sie nicht die eigenen sind. Wir respektieren die Ansichten des Gegenübers immer bis – selbstverständlich – zu einer gewissen Grenze. Die ist dann erreicht, wenn besagte Meinung gegen die Würde des Menschen verstößt. Das akzeptiere ich nicht, und damit wird eine Auffassung illegitim.

STANDARD: Was bedeutet das mit Blick auf den Rückzug der Erste Foundation, die Ihre "Rede an Europa" plötzlich nicht mehr unterstützen möchte? Weil der Wiener Judenplatz als Ort der Abhaltung ihr nunmehr "unpassend" erscheint?

Boehm: Das sollten Sie die Erste-Stiftung fragen. Ich füge hinzu: Wenn die Legitimität dieser Rede infrage gestellt wird, dann nicht, weil ich gegen die Menschenwürde bin, sondern weil ich sie unterstütze. Dieser Trend sollte uns Sorgen machen, denke ich, vor allem, wenn wir uns um Europa inmitten des Aufstiegs der nationalistischen populistischen Rechten sorgen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Boehm: Leute wie Ariel Muzicant, die sich beschwerten, dass ich postkoloniales Denken in den israelischen Kontext einführe, sind schlecht informiert. Ich bin ein lautstarker Gegner des postkolonialistischen Denkens, theoretisch und im israelisch-palästinensischen Kontext. Was Muzicant an meiner Position zu stören scheint, ist nicht mein angeblicher "Postkolonialismus", sondern die Tatsache, dass ich mit Kant den Universalismus der Aufklärung vertrete. Das ist natürlich legitim, wenn auch besorgniserregend.

STANDARD: Sie propagieren, mit Blick auf Israel und auf das künftige Zusammenleben in Nahost, eine "realistische binationale Utopie". Nimmt sich diese nach dem 7. Oktober 2023 und der Ausweitung des Gazakrieges nicht utopischer denn je aus?

Boehm: Ich verstehe die Zweifel und Fragen der föderalen Richtung, die ich unterstütze. Seit dem 7. Oktober ist die Situation unerträglich geworden. Aber es wäre noch viel weiter von jeglicher Realität entfernt, heute von einer "Zwei-Staaten-Lösung" zu sprechen. Oder dass es keiner Vermittlung bedürfe. Diese beiden Illusionen haben uns in die gegenwärtige Katastrophe geführt. Mein Argument war nie nur "utopisch", sondern auch "dystopisch": Wenn wir keine Alternativen zu den weitverbreiteten Illusionen entwickeln, werden wir eine Katastrophe verursachen. Die Leute dachten, ich würde übertreiben. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, wenn sie jetzt die Zwei-Staaten-Lösung oder keine Lösung anbieten und so tun, als sei dies vernünftig oder irgendwie realistisch.

STANDARD: Und diese Katastrophe erleben wir gerade?

Boehm: Leider ja. Und gerade jene, die der Zwei-Staaten-Illusion anhängen, verschlimmern die Katastrophe, indem sie noch immer keinen Waffenstillstand fordern. Wer an einer politischen, nicht an einer militärischen Lösung interessiert ist, muss damit beginnen, die Gespräche über die Zweistaatlichkeit in Richtung einer Föderation zu lenken.

STANDARD: Was tun mit all den möglichen Partnern, denen am Existenzrecht Israels nicht das Geringste liegt?

Boehm: Natürlich steht das Existenzrecht Israels außer Frage. Die Frage lautet, wie man die Vision eines demokratischen jüdischen Staates weiter beibehalten kann, auch wenn es keine Zweistaatenlösung geben wird und die Mehrheit der israelischen Bevölkerung de facto nicht jüdisch ist. Man muss in die Richtung einer Föderation denken – damit berühre ich übrigens auch das Europa-Thema. Eine solche Föderation sollte auf der Idee der Würde des Menschen gegründet sein. Jede nationale Identität, jedes Bekenntnis zu ihr sollte gerade aus Rücksicht auf die Würde des Menschen beibehalten werden. Eben weil sie unabdingbar dafür ist, dass seine Würde gewahrt bleibt. Man kann nicht die Zuerkennung nationaler Souveränität an den Anfang stellen – und die Würde des Menschen erst hinterher hinzuaddieren. Das tun heute beide Seiten, und das führt zu einer Katastrophe. Das ist die Logik, die ich zu durchbrechen versuche, auch in meiner "Rede an Europa".

STANDARD: Das meint auf konkreter Ebene?

Boehm: Wer könnten die möglichen Partner einer solchen Verabredung sein? Kleine Schritte in die richtige Richtung könnten durch die israelischen Palästinenser erfolgen, also durch israelische Staatsbürger. Es gibt Initiativen wie "A Land for All", in der Juden und Palästinenser seit einigen Jahren zusammenarbeiten. Die dort Organisierten sprechen sich nicht explizit gegen eine Zwei-Staaten-Lösung aus, wiederholen aber auch nicht die alte Rhetorik des Oslo-Abkommens. Das Modell für solche neuen Ideale des Denkens ist das, was ich mit Haifa Republic mache. Die Macher von "Ein Land für alle" stehen meinem Denken sehr nahe, und wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Wie sich ein solches Denken auf das Westjordanland übertragen lässt, auf Gaza, das ist wahrhaftig nicht einfach. In der Westbank war das Führen solcher Gespräche möglich – natürlich vor dem 7. Oktober. Es ist nur sehr viel weniger realistisch, diese Optionen nicht zu behalten.

STANDARD: Was würden Sie Skeptikern heute entgegnen?

Boehm: Der Skepsis liegt die irrige Annahme zugrunde, dass die Realität einfach ist. Die Situation ist sehr komplex, fast unmöglich, und deshalb ist es unrealistisch zu glauben, dass die Lösung einfach und vertraut sein kann. Wahre Skeptiker sind diejenigen, die ihre eigenen Annahmen infrage stellen; die "Skeptiker" hier sind zu oft Dogmatiker, die sich weigern, das zu tun. Würden sie das tun, könnten sie Positionen einnehmen, die zwar schwierig und weit hergeholt, aber realistischer sind. (Ronald Pohl, 5.5.2024)