Hätte er bloß das Kleingedruckte gelesen! Joel Fleischman war aber dermaßen happy über das Medizin-Stipendium, dass er seine Unterschrift einfach so unter den Vertrag fetzte und nicht so recht checkte, dass der US-Bundesstaat Alaska, der sein Studium bezahlt, dereinst auf eine kleine Gegenleistung bestehen würde: nein, nicht seine Seele … aber doch seine Expertise als fertiger Arzt. Und zwar am Ende der Welt.

Wer blinzelt zuerst – Großstädter Dr. Joel Fleischman (Rob Morrow) oder der Elch?
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Joel, zartes New Yorker Zimmerpflänzchen und zentrale Figur der 90er-TV-Serie Ausgerechnet Alaska (Orig.: Northern Exposure), muss also sein Stipendium in der Wildnis des hohen Nordens abbezahlen – in Naturalien. Er selber würde lieber das Wort "abbüßen" verwenden. Denn nichts anderes ist es, wenn du als weltgewandter Weltstädter in einem 813-Seelen-Kaff (halt, mit ihm sind es jetzt 814) dein Dasein fristen musst. In einem Dörfchen, in dem jeder jeden kennt, inklusive aller (wirklich aller) Geheimnisse. In einem verschlafenen Nest, durch das Elche, Füchse und Wölfe streunen. In einem Weiler, meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt und de facto nur per Flugzeug erreichbar.

Wenn Sie es nicht eh schon wissen, ahnen Sie es zumindest: Joel (Rob Morrow) wird über kurz oder lang diesen Ort mit all seinen Menschen lieben lernen, ohne es aber ihnen gegenüber zuzugeben – und am allerwenigsten wird er es sich selbst eingestehen. Zumindest am Anfang.

Zwischen Hass und Liebe

Der Topos ist ja bestens vertraut: Mehr oder weniger sympathischer, mehr oder weniger schnöseliger Städter kommt aufs Land, hasst es zuerst (naturgemäß) abgrundtief und liebt es dann (zwangsläufig) so sehr, dass er nicht mehr wegwill. Das kennen wir in Spielvarianten von Brigadoon (1954) und Local Hero (1983); das war später so bei City Slickers (1991) und Men in Trees (2006).

Ausgerechnet Alaska ist da keine Ausnahme. Joel oszilliert zwischen verzweifeltem Hass und abgöttischer Liebe zu allem, was Alaska im Allgemeinen und Cicely (das Kaff) im Besonderen ausmacht. Als hilfreich beim diffizilen seelischen Transformationsprozess erweist sich die ebenso resolute wie spröde-bezaubernde Maggie (Janine Turner), als Pilotin die fast einzige Verbindung zur Außenwelt. Aus bilateraler, deutlich artikulierter Abneigung wird … na ja, Sie wissen schon.

Zu den Highlights dieser feinen Serie abseits vom Mainstreamkommerz gehören Szenen voll hintergründigen Humors und simpler, wenngleich tiefer Wahrheiten. Da sinniert Irgendwie-nicht-und-irgendwie-doch-Hippie Chris (John Corbett), der Friedrich Nietzsche als "Bruder" tituliert, in seiner Talkradio-Sendung über Manitou, die Rentiere und die Welt ("Ein bisschen von Darth Vader steckt in uns allen."). Später hilft er Maggie dabei, ihre neue Waschmaschine anzuschließen, und malt düstere Zukunftsszenarien, in denen die Technik dafür sorgen wird, dass man sich aus der Gesellschaft anderer Menschen zurückziehen wird: keine Waschsalons mehr, keine Märkte, keine Kinos. Dienstleistungen werden zu Hause verfügbar, keine Notwendigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. "Schließ dich an ans Glasfaserkabel und vergiss die Welt!" Kommt uns das 30 Jahre später irgendwie bekannt vor?

Auf dem Streifzug durch Cicely stoßen wir gerne immer wieder auf den gleichermaßen naiven wie weisen Ed (Darren Burrows). Der Bursche ist hin- und hergerissen zwischen Tradition und Modernität. Radiomoderator Chris ist für ihn ein Megastar, eine Personalunion aus Jesus, Elvis und einem Alien – bloß weil er schon die große weite Welt gesehen hat.

"Feiner Tag!"

Oder die eine Szene mit Joel, der seine Ziege Gassi führt und von Ed wissen will, wie es ist, einem Stamm anzugehören. Und dabei draufkommt, selbst dem Stamm der Juden anzugehören. Oder doch dem der Amerikaner? Oder sind es die Republikaner, die New Yorker, ist es sein Baseballteam? "Sind wir nicht mittlerweile alle Angehörige eines globalen Stammes: Telefon, Fax, CNN?", sinniert Joel. Ed antwortet lapidar, wie immer: "Na ja, man kann nicht mit einer Milliarde Menschen rumhängen." Also macht den Menschen das aus, was er mit und durch seine Mitmenschen ist. Ein schöner, wahrer Gedanke. Holt dich auf die Erde zurück. Folgerichtig blinzelt Ed in die Sonne und freut sich: "Feiner Tag!" – Schnitt.

Ach du meine Güte! Sprung mit der Zeitmaschine 30 Jahre zurück: Janine Turner, Rob Morrow, Barry Corbin,Cynthia Geary, John Cullum (stehend, v. li.), Darren E. Burrows, John Corbett (sitzend, v. li.).
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Ich gebe es nur allzu gerne zu: Ich war und ich bin ein Fan dieser vordergründig unspektakulär-zurückgelehnten und doch so grandiosen Serie, die sieben Emmys abräumte. Schon damals in den frühen 90ern, als ich umständlich den alten VHS-Rekorder programmieren musste, um ja keine Folge zu versäumen. Das Bild flimmerte, der Ton war grässlich. Andererseits: völlig egal.

Zum Abschluss müssen Sie jetzt ganz stark sein, wenn Sie sich – so wie weiland ich – unsterblich in die unfassbar schöne Landschaft Alaskas verliebt haben sollten: alles Fake! Gefilmt wurde hauptsächlich in Roslyn und Redmond im US-Bundesstaat Washington, quasi im erweiterten Wohnzimmer von Seattle, fast 3000 Kilometer vom imaginierten Traumort entfernt. Und auch der Elch, der immer wieder durch Cicely trottet und fast zur Familie gehört, war kein Wildtier, sondern eine Leihgabe der Washington State University. Ausgerechnet von Alaska also keine Spur in Ausgerechnet Alaska. Andererseits: völlig egal. (Gianluca Wallisch, 25.5.2024)