Zehn Tage nach Steve Albinis Tod veröffentlichte seine Band Shellac ihr letztes Album "To All Trains" (von links: Albini, Todd Trainer, Bob Weston).
Daniel Bergeron

Es ist eine besondere Kunst, aus einer Enttäuschung Glücksmomente zu generieren. Der Band Shellac gelingt das auf ihrem Album To All Trains immer wieder. Es umfasst zehn Songs, hat eine Laufzeit von weniger als einer halben Stunde und fährt hörerseitig ein, ja, wie ein Zug, ein Train. Dabei sind die Songs jedes Mal fast schon wieder vorbei, wenn man es sich in ihnen genussvoll eingerichtet hat. Das enttäuscht, gleichzeitig erfreut die Konsequenz, mit der die Band das betreibt. Lieber hört sie auf, als sich zu wiederholen.

Shellac waren ein Trio. Aus dem Punk kommend, verbaten sie sich Geschwätzigkeit, was sich in ihren Songs fortsetzte. Die sind aus, wenn alles gesagt und gespielt ist. Wozu das Baby auf die Streckbank legen?

Shellac waren und sind nun nicht mehr. Als To All Trains vergangenen Freitag erschien, war ihr Sänger und Gitarrist Steve Albini seit zehn Tagen tot. Gestorben am 7. Mai an Herzversagen, mit 61 Jahren. Albini prägte den US-amerikanischen Underground-Rock gut 35 Jahre lang, als Musiker, Aufnahmetechniker und als so etwas wie ein moralischer Kompass, dessen Nadel stets auf Unabhängigkeit zeigte. Als Tontechniker betrieb er das Chicagoer Studio Electrical Audio, in dem er seine Vision von Punkrock als erschwingliche Kunst verwirklichte.

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Shellac - Topic

Jeder konnte bei ihm aufnehmen, seine Tarife waren günstig, seine Hingabe unbezahlbar. Er nahm Alben auf für PJ Harvey, die Pixies, Robert Plant und Jimmy Page von Led Zeppelin oder Nirvana – und für wenig bis kaum bekannte Bands. Er betrachtete sein Tun als kulturhistorische Notwendigkeit: Er dokumentierte Musik als gesellschaftliches Abbild für kommende Generationen.

Alle Regeln umgehen

Seine eigene Musik mit Shellac war ihm zwar wichtig, doch seine Weigerung, sich den Regeln des Business zu unterwerfen, drang bis in diesen Lebensbereich vor. Gegründet 1992, haben Shellac nur sechs Alben veröffentlicht. Albini, Schlagzeuger Todd Trainer und Bassist Bob Weston schufen sich eine Existenz außerhalb von Veröffentlichungsdruck und Tourzwang.

Das Trio existierte in einem eigenen Zeit-Raum-Kontinuum und wurde zu einer populären Feierabend-Band, wobei sie wenig bis nichts dazu taten, populär zu werden. Sie beschäftigten kein Management, keine Promotion, verursachten kein Marktgeschrei. Das Interesse an Albini und Co musste reichen.

To All Trains ist das Produkt aus Sessions, die bis ins Jahr 2017 zurückreichen. 2022 machten sie den Sack zu, befanden, es sei gut, und ließen ein Album pressen, Vinyl vornehmlich. Denn Albini war ein Verfechter analoger Technik. "Ich bin in der ungewöhnlichen Situation, in meinem Brotjob Musik von Masterbändern zu hören. Deshalb kann ich sagen: Was der ursprünglichsten Aufnahme am nächsten kommt, ist Musik von hochwertigem Vinyl", sagte er 2008 dem STANDARD.

Chick New Wave
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Das hört man der Band an, die analoge Technik ist gewissermaßen die Aura ihres Klangs. Der ist roh, virtuos ungeschliffen, rohdiamantig. Trainer ist ein präziser Schlagzeuger, seine Kunst besteht jedoch darin, das Primitive zu erhalten. Diese Beherrschtheit ist ein ästhetisches Merkmal dieser Musik. Zwar entfahren ihr kleine Eruptionen, die der Aufregung des Moments entspringen und ihr zugleich dienen, eitles Gewese verbietet man sich aber.

Der bürokratische und hochgradig ungeile Terminus "Math Rock" wurde Shellac oft angedichtet, naturgemäß widersprach die Band. Ihre Musik entsprang der klassischen Jamsession, nur eben von Musikern, die ihr Heil nicht in zehnminütigen Soli suchten, sondern sich an der mantraartigen Strenge von Bands wie Wire orientierten.

Hart genagelt

To All Trains macht das wieder deutlich. Es ist eine Sammlung von hart ans Brett genagelten Songs, deren Verve in der Direktheit und bewusst gesetzten Unschärfen liegt. Es reißt mit, wenn sie das Tempo erhöhen, es hält in Aufregung, wenn sie Songs verzögern, das Naheliegende auslassen, unerwartete Haken schlagen, und es fesselt mit repetitiver Wucht.

Die Themen Albinis waren meist die US-amerikanische Unterhaltungskultur und ihre Auswüchse, kurz: der amerikanische Albtraum. Sein Zugang dazu war kritisch bis angeekelt, sein Humor schwarz wie das Vinyl der Platte. Dass nun manche Zeilen eine besondere Schwere erhalten, war nicht abzusehen, andererseits wäre Albini wohl der Erste gewesen, den das amüsiert hätte. Im letzten Song I Don't Fear Hell singt er "Something something something when this is over / Leap in my grave like the arms of a lover / And if there's a heaven, I hope they're havin' fun, 'cause if there's a hell I'm gonna know everyone." (Karl Fluch, 24.5.2024)