In den Visegrád-Staaten zeichnet sich eine interessante Entwicklung ab: Illiberale Populisten werden meistens von rechts erfolgreich herausgefordert. In Warschau, Prag und Bratislava konnten konservative Politiker die dortigen Populisten (wenn auch in Bratislava nur zeitweise) besiegen. Péter Magyar, der neue Star der ungarischen Opposition, versucht diese Strategie auch in Ungarn gegen Viktor Orbán anzuwenden. Kann Orbán in der Tat nur von rechts abgewählt werden?

Die Zeit bleibt in Ungarn doch nicht stehen?

Nach der Niederlage der vereinigten ungarischen Opposition bei den Parlamentswahlen von 2022 war die Stimmung im oppositionellen Lager im Keller: Die Regierungspartei von Viktor Orbán, die Fidesz, schien ewig an der Macht bleiben zu können, die oppositionellen Wähler:innen gaben jede Hoffnung auf einen Regimewechsel auf. Die Oppositionsparteien waren selbst gespalten und konnten außerhalb von Budapest und einigen Großstädten kaum neue Wähler:innen erreichen. "Gut, dann werden wir hier leben müssen", zitierten viele damals den Spruch eines ungarischen Kultfilms aus dem Jahre 1982, dessen Titel auch die jetzige Stimmung gut wiedergibt: Megáll az idő, das heißt "Die Zeit bleibt stehen". Als Péter Gothár seinen Film drehte, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass das damalige Kádár-Regime in wenigen Jahren zusammenbrechen und von einem demokratischen System abgelöst werden würde.

Das jetzige Regime von Viktor Orbán ist in Ungarn nicht zusammengebrochen. Aber wenn jemand vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass die Fidesz-Partei um ihre Macht bangen muss beziehungsweise dass hunderttausende Menschen im ganzen Land, sogar in kleinen Dörfern, gegen Orbán auf die Straße gehen, wäre sicherlich belächelt worden. Seit Februar ist aber die Dynamik in die ungarische Innenpolitik zurückgekehrt.

Viktor Orbán
Magyar lehnt Orbán vor allem nicht ideologisch ab, er ist mit ihm in einigen ideologischen Fragen sogar einverstanden. Aber er meint, dass Orbán eine "Mafia" in Ungarn ausgebaut habe und gerade deswegen abgewählt werden müsse.
via REUTERS/Koszticsák Szilárd

Im Februar musste Staatspräsidentin Katalin Novák wegen der Begnadigung eines Mannes, der für Mittäterschaft in einem Kindermissbrauchsfall verurteilt worden war, zurücktreten. Auch die frühere Justizministerin und damals designierte Listenanführerin der Fidesz-Partei für die Europaparlamentswahlen, Judit Varga, musste sich aus der Politik zurückziehen, weil sie die Begnadigung ebenso mitunterschrieben hatte.

Und in diesem Moment trat ihr Ex-Ehemann Péter Magyar auf die politische Bühne: Der Fidesz-Insider, der in den letzten vierzehn Jahren in diversen führenden Wirtschaftspositionen zur engsten Machtelite gehörte, kritisierte in einem Interview das Orbán-Regime als "Mafiaclan", der das ganze Land wie ein "Familienunternehmen" beherrschen würde. Im März kündigte er dann an, bei den Europaparlamentswahlen mit einer eigenen Partei antreten zu wollen.

Eine neue Opposition – gegen die Regierung wie auch gegen die alte Opposition

Innerhalb weniger Wochen wurde seine Partei Tisza (auf Deutsch: Theiß, aber auch eine Abkürzung für "Respekt und Freiheit“) mit 26 Prozent zur stärksten Oppositionspartei. Magyar konnte sowohl die "hoffnungslosen" oppositionellen Wähler:innen wie auch viele aus dem Fidesz-Lager ansprechen: Er will nicht nur Viktor Orbán besiegen, sondern auch die bisherige Opposition als alleinige Alternative ersetzen.

Seit März organisierte Magyar zwei Großdemonstrationen in Budapest. Dass Hunderttausende in der ungarischen Hauptstadt gegen Orbán demonstrieren, ist freilich noch keine Neuheit. Budapest war und ist – wie Wien in Österreich – immer "anders". Magyar konnte aber auch das "ländliche" Ungarn mobilisieren: In der Fidesz-Hochburg Debrecen nahmen etwa Zehntausende an einer Demonstration von Magyar teil – auf dem historischen Platz vor der großen kalvinistischen Kirche, wo Ungarn 1849 seine Unabhängigkeit vom habsburgischen Österreich erklärt hatte. Magyar reist zurzeit durch das ganze Land, seine Wahlveranstaltungen sind auch in den kleinsten Dörfern gut besucht.

Die Regierungspartei Fidesz versucht, die alte Methode gegen Magyar anzuwenden: Er sei ein "Agent von George Soros", er sei "links", er sei ein "Kriegstreiber", er unterstütze die illegale Migration oder die Genderideologie. Was aber gegen die "alten" Oppositionsparteien erfolgreich war, scheint gegen Magyar kaum zu wirken.

Magyar vertritt nämlich auch Positionen, die bei vielen rechtskonservativen Wähler:innen gut ankommen. Er schafft somit, die Narrative der Fidesz-Partei gegen dieselbe zu wenden: Die "nationale Souveränität" müsse zwar auch gegenüber der Europäischen Union verteidigt werden, aber die wahre Gefahr für die Souveränität des "Volkes" sei die "mafiaartige" Regierung von Viktor Orbán. Magyar verwendet sogar eine nationalistische, ab und zu EU- oder USA-kritische Rhetorik. Er bezeichnet sich als "freisinnig-konservativ", er bedient sich auch nationalistischer Topoi, er zitiert etwa Albert Wass, einen wegen Nazi-Kollaboration in Rumänien verurteilten, siebenbürgischen Schriftsteller und so weiter. Somit kann er auch Fidesz-Wähler:innen ansprechen.

Zugleich grenzt er sich gegenüber der "alten" Opposition, vor allem gegenüber dem früheren sozialistischen Premierminister, Ferenc Gyurcsány ab, er lehnt etwa jegliche Zusammenarbeit mit allen ab, die mit Orbán oder Gyurcsány jemals kooperiert hatten. Dass er ein "Hampelmann von Gyurcsány" sei – wie die Fidesz-Partei alle anderen Oppositionspolitiker:innen bisher bezeichnet hatte –, greift also diesmal nicht. Denn Magyar will "das ganze System der vergangenen 34 Jahre", mitsamt der jetzigen Opposition, ablösen. Die zwei Lager der ungarischen Politik, die Fidesz-Partei und die hauptsächlich linke und liberale Opposition, attackieren Magyar gleichfalls, was ihm aber wiederum hilft, sich als "der neue Mann", der gegen "die bisherigen Eliten" sei, zu positionieren, auch wenn er selbst vierzehn Jahre lang Teil der Fidesz-Elite war.

In einigen Elementen scheint seine Politik der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, vor allem unter Beppe Grillo, ähnlich zu sein: eine One-Man-Show mit einer Anti-System-Rhetorik. Magyar folgte dem Grillo'schen Modell auch bei der Auswahl seiner Kandidat:innen für die Europaparlamentswahlen: Es wurde eine offene Ausschreibung angekündigt, viele konnten sich um einen Listenplatz bewerben, und Magyar ließ seine Sympathisant:innen online darüber abstimmen, wer dann antreten darf. Hochausgebildete, aber vollkommen unbekannte Menschen wurden dabei ausgewählt, was gleichzeitig die "Führerposition" von Magyar in seiner Bewegung wie auch das Image, das "wahre, einfache" Volk zu vertreten, stärkt.

Illiberaler Populismus nur von rechts herausgefordert in Ostmitteleuropa?

Was Magyar macht, ist zwar in Ungarn eine neue, überraschende Taktik. In den anderen Visegrád-Staaten ist diese aber keinesfalls neu: In der Slowakei, Tschechien oder Polen wurden die dortigen illiberalen Populisten ebenso von rechts herausgefordert und (wenn auch etwa in der Slowakei nur zeitweise) erfolgreich bekämpft.

Robert Fico wurde 2020 vom Rechtspopulisten Igor Matovič besiegt. Matovič´ harte Anti-Korruptions-Rhetorik und sein populistischer Stil zeigen vielen Ähnlichkeiten auch zur Magyars Politik auf. Fico konnte zwar voriges Jahr an die Macht in Bratislava zurückkehren, aber die meisten Oppositionsparteien sind weiterhin eher rechtsliberal (wie die neoliberale SaS-Partei) oder rechtskonservativ (wie die Christdemokraten oder die "Slowakei Bewegung" von Matovič), sogar die linksliberale "Progressive Slowakei" ist eher liberal als links. In der Slowakei ist die Gesellschaft übrigens ähnlich polarisiert wie in Ungarn; das Attentat auf Robert Fico vergangene Woche ist ein trauriges Zeichen dafür. Sowohl Ficos Smer-Partei als auch Orbáns Fidesz-Partei versuchten, das Attentat der "liberalen" Opposition zuzuschreiben.

In Tschechien konnte die EU-skeptische, rechtsliberale Bürgerlich-Demokratische Partei (ODS) von Petr Fiala, einem Verbündeten der italienischen Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni, die Wahlen 2021 gegen den Populisten Andrej Babiš gewinnen. Und in Polen wurde der Nationalkonservative Mateusz Morawiecki vom Liberalkonservativen Donald Tusk 2023 abgewählt.

Es gibt freilich bedeutende Unterschiede: Magyars Bewegung ist zwar populär, aber institutionell oder auf der lokalen Ebene kaum verankert, während vor allem die Parteien von Petr Fiala oder Donald Tusk längst etablierte Teile der dortigen Politik sind. Auch das Wahlsystem in Ungarn erschwert Magyars Lage: Im Unterschied zu Polen, Tschechien oder der Slowakei macht das ungarische Wahlsystem notwendig, dass alle Parteien, die gegen die Fidesz sind, mit gemeinsamen Kandidat:innen, einer gemeinsamen Liste antreten. Im Vergleich zu Fiala oder Tusk zeigt Magyar aber wenig Bereitschaft, mit anderen Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten; in seiner Anti-System-Rhetorik ist er eher Igor Matovič oder Beppe Grillo ähnlich.

Im Grunde versucht aber Péter Magyar die in Warschau, Prag und zeitweise auch in Bratislava erfolgreiche Taktik anzuwenden: Der illiberale Populismus solle nicht von links bekämpft werden. Magyar lehnt Orbán vor allem nicht ideologisch ab, er ist mit ihm in einigen ideologischen Fragen sogar einverstanden. Aber er meint, dass Orbán eine "Mafia" in Ungarn ausgebaut habe und gerade deswegen abgewählt werden müsse. In seinen Reden spielt Magyar das "Volk" gegen die "Elite" in einem eigentlich populistischen Sinne aus – aber gerade gegen eine populistische, illiberale Machtelite in Budapest.

Magyars Taktik, den ungarischen Regierungschef rechts, sogar populistisch zu überholen und mit seiner eigenen Rhetorik zu bekämpfen, scheint aufzugehen: Schafft Magyar, bei den Europarlamentswahlen sogar 30 Prozent zu erreichen, die "alte", linke und liberale Opposition zu marginalisieren und die Fidesz-Partei unter 50 Prozent zu halten, kann er Orbán 2026 bei den nächsten nationalen Wahlen erfolgreich herausfordern. Ob er aber dabei wie Igor Matovič handeln wird, also wie ein Skandalpolitiker, der sich nicht an der Macht halten konnte, oder ob er eine moderat-konservative Alternative wie Petr Fiala und Donald Tusk anbieten kann, wird sich noch zeigen müssen. (Péter Techet, 22.5.2024)