Erst im April wurde etwa der islamistischen Gruppe Muslim Interaktiv vorgeworfen, junge Menschen auf Tiktok rekrutieren zu wollen.
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Was als harmlose App für kurze Lip-Sync-Clips begann, ist heute einer der größten Umschlagplätze für extremistisches Gedankengut. Im April warnte der Brandenburger Verfassungsschutz vor einer "Tiktokisierung des Islamismus": Die Kurzvideoplattform spiele bei der "medialen Inszenierung im Islamismus" eine zentrale Rolle, soziale Medien würden immer mehr "mit der analogen Welt interagieren" und "rasante Dynamiken" in Gang setzen, heißt es im kürzlich veröffentlichten Verfassungsschutzbericht. Ein aktuelles Beispiel stellt die von der Gruppe Muslim Interaktiv organisierte Demonstration für ein Kalifat mit über tausend Teilnehmenden in Hamburg dar. Das Phänomen ist allerdings auch hierzulande bekannt: Schon 2022 wies der österreichische Verfassungsschutz auf die Problematik "radikaler, als Influencer agierender Prediger" hin.

Doch was bedeutet das für die Lebenswelt junger Menschen? "Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden suchen Sinn und Orientierung im Leben, wollen anerkannt und gesehen werden", meint Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus. Dies würden sich unter anderem auch (neo)salafistische Akteure zunutze machen. "Als Influencer*innen verkaufen sie als Glaube geframte Ideologien, sie greifen aktuelle gesellschaftspolitische Themen auf und geben einfache Antworten auf komplexe Fragen", so Fabris.

Tatsächlich ist die größte Sorge der Menschen, die sich an die Beratungsstelle wenden, der Verdacht auf islamistischen Extremismus (43,3 Prozent). Die Sorge allein zeige aber noch nicht, wie sehr islamistisch-extremistische Inhalte unter Jugendlichen verbreitet seien, erklärt Fabris. Oft gehe es bei den Anrufen um Fragen der Religion oder jugendliche Provokation, mitunter auch um Vorurteile der Eltern, die eine Radikalisierung vermuten. Es brauche Prävention und Projekte, die Perspektiven vor allem auch in den Online-Welten der Jugendlichen zur Verfügung stellen.

Beratungsstelle Extremismus

Ein solches Projekt ist der Tiktok-Kanal "Cop&Che". Als ungleiches Duo beantworten dort der Polizist Uwe Schaffer und der junge Tschetschene Achmed "Che" Mitaev User-Fragen unverkrampft und auf Augenhöhe. Doch Achmed geht es nicht nur um Antworten mit Augenzwinkern: Er möchte Jugendliche davor bewahren, Radikalisierung zum Opfer zu fallen, da er sich 2014 selbst beinahe einer islamistischen Organisation angeschlossen hätte. Nur ein Telefonat mit seiner Familie bewahrte ihn in letzter Sekunde davor, das Land Richtung Syrien zu verlassen.

Heute arbeitet Achmed als Trainer in der Beratungsstelle Extremismus. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt er, wie er das Phänomen Tiktok wahrnimmt und welche Inhalte ihm auf Social Media Sorgen bereiten.

STANDARD: Wie oft sind junge Menschen deiner Erfahrung nach radikalisierenden Inhalten auf Tiktok ausgesetzt?

Achmed: Dass radikalisierende Inhalte geteilt werden, dass sie radikalisierende Inhalte konsumieren, egal ob aus religiöser oder politischer Sicht – Rechtsextremismus, Linksextremismus – das gibt's auf jeden Fall. Das große Problem bei Tiktok ist, dass die Userinnen und User selber Content produzieren. Das nennen wir "Do-it-yourself-Dawah" – also eine Aufklärung, die man sozusagen selber macht.

STANDARD: Damit ist gemeint, dass Jugendliche komplexe Inhalte des Islam sehr vereinfacht zusammenfassen?

Achmed: Das ist ein sehr krasses Phänomen. Da geht es beispielsweise oft um Ehe-, Beziehungs- oder Handelsthemen: Was darf ich kaufen, verkaufen? Darf ich Zinsen nehmen oder geben? Themen, mit denen sich Gelehrte dreißig, vierzig Jahre auseinandersetzen, um ein klares Bild zu zeichnen, wie es die Religion vorschreibt, wenn man strikt nach dem Koran gehen würde. Diese Themen fassen Leute innerhalb von vierzig Sekunden zusammen und geben ihre eigenen Rechtsprechungen einfach aus dem Bauchgefühl heraus, ohne das mit einem Gelehrten abgestimmt zu haben. Es geht aber auch um große Themen wie Wahlen. Ein Jugendlicher ist mir stark in Erinnerung geblieben, der gemeint hat, du wirst zu einem Ungläubigen, wenn du bei der Schulsprecherwahl teilnimmst. Weil es demokratische Wahlen sind und das dem Islam nicht entspräche. Weil es menschengemachte Gesetze sind.

STANDARD: Wie stehst du dazu?

Achmed: Das ist völlig absurd. Ich würde sagen, 99,9 Prozent der Muslime lehnen diese Meinung ab. Kein einziger Gelehrter vertritt diese Ansicht, ich habe das bisher auch nur im Internet bei diesem Video von einem 13-Jährigen gesehen. Aber das Video hatte fast fünftausend Likes. Und über fünftausend Jugendliche, das ist eindeutig kein Spaß. Das sind fünftausend Jugendliche, die weiteren fünf- oder zehntausend das weitervermitteln werden. Weil sie ihre Religion und die Schriften nicht kennen. Ich frage in der Arbeit oft: "Was ist dein Beweis dafür?" Und von zehn Leuten sagen sicher acht: "Hab' ich in einem Tiktok-Video gesehen." Und ein, zwei sagen, sie haben das von Telegram oder von irgendwem gehört.

STANDARD: Kennst du auch gute Tiktok-Kanäle, die eine Hilfestellung für junge Menschen bieten, die Sicherheit in der Religion suchen?

Achmed: Leider nein. Manche Leute, die Gutes sprechen, sagen dann auch wieder viele Sachen, die meinen Ansichten widersprechen. Da denke ich mir: Kann es nicht jemanden geben, der korrekt ist und richtig aufklärt? Jemanden, der Jahre seines Lebens darin investiert hat, diese Themen kennenzulernen. Aber solche Leute halten sich leider auf Social Media zurück und sind nur offline aktiv. Weil sie denken, dass auf Social Media zu viel Unruhe ist, zu viele Missverständnisse entstehen können.

STANDARD: Religion spielt in deinem Leben nach wie vor eine sehr große Rolle. Wann ist ein religiöser Inhalt "problematisch"?

Achmed: Aus meiner Sicht, und aus islamischer Sicht ist es so, wenn es andere Menschen gefährdet, unterdrückt oder ausgrenzt, anderen Menschen Gewalt androht. Das sind Sachen, wo ich meinen Mund nicht halte und mich auch zu diesen Themen äußere. Auch wenn Falschinformation über alte Gelehrte verbreitet werden, weil Leute auf Telegram oder Tiktok irgendwas über sie aufgefangen haben. Da hört es sich für mich wirklich auf.

STANDARD: Wie problematisch ist Telegram?

Achmed: Ein noch größeres Problem als Tiktok, meiner Meinung nach. Es wurde schon früher für Radikalisierung, vor allem auch von Rechtsextremen, genutzt. Mittlerweile haben sie Tiktok entdeckt. Dort sind viele Jugendliche, die unvorsichtiger sind. Es gibt einen Kanal eines Wieners mit koreanischen Wurzeln, der in Videos den Islam lächerlich macht und erzählt, er würde als Sextourist Kinderleichen in Gaza schänden. Und das wird nicht runtergenommen. Auf Telegram kannst du nicht viral gehen, auf Tiktok ist das möglich. Deswegen konzentrieren sich Verfassungsschützer jetzt auf Tiktok. Auf Telegram sollte aber genauso viel Aufmerksamkeit gerichtet werden wie auf Tiktok.

STANDARD: Wie kann man Jugendlichen die Gefahren von Tiktok bewusstmachen?

Achmed: Wir arbeiten meist mit Beispielen. Ich kenne jemanden, der wurde wegen acht Gesängen, die er herumgeschickt hat, zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das bekommt man oft nicht einmal für fahrlässige Tötung. Oder vor kurzem hat ein Jugendlicher Gesänge zu einem Trainingsvideo hinzugefügt und das gepostet. Das waren aber IS-Gesänge, und das hat er nicht gewusst, weil er die arabische Sprache nicht beherrscht und nichts mit dem IS zu tun hat. Das Teilen von Propagandamaterial, also in diesem Fall einem IS-Nasheed, wird aber nach § 278b geahndet – wie ein Anschlag oder die Gründung einer Terrororganisation. Man muss den jungen Leuten klarmachen, was vom IS ist und was nicht, welche Inhalte verbreitet werden. Prävention und Aufklärung sind das Wichtigste. Man muss den Leuten sagen: "Auch wenn ihr euch sicher fühlt, ihr seid nicht sicher. Es hilft nicht, vor Gericht zu sagen, 'Ich wusste das nicht'. Unwissenheit schützt nicht vor Strafe." Schulen müssen an Workshops teilnehmen, Leute herholen, die über diese Themen aufklären und ihnen die Risiken bewusstmachen: dass es passieren kann, dass man sich wegen ein paar Tiktok-Videos komplett die Zukunft verbaut oder einem der Aufenthaltstitel entzogen wird. (Lisa Haberkorn, 24.5.2024)