Eine Mutter mit ihrem offensichtlich frustrierten Sohn. 
Mütter und Söhne oder, genauer, Feministinnen und Söhne – mit diesem Verhältnis hat sich Shila Behjat befasst.
IMAGO/Pond5 Images

Heute ist es für viele Eltern selbstverständlich, ihre Töchter zu ermutigen, sich Raum zu nehmen, bestimmt zu sein und sich selbst wichtig zu nehmen. Doch wie funktionieren heute diese Botschaften für Buben? Keine Mutter, kein Vater wolle dem eigenen Sohn sagen, er solle sich wegen der nachzuholenden Gleichberechtigung doch bitte mal zurücknehmen oder sich in die zweite Reihe stellen, sagt Shila Behjat, die sich in ihrem Buch den künftigen Männern widmet und schreibt, wie wichtig es ist, auch Söhne vor Vorurteilen zu bewahren.

STANDARD: Sie haben sich zu Beginn Ihrer Schwangerschaft nicht mit dem Wunsch eines bestimmten Geschlechts befasst. Warum?

Behjat: Es ist verrückt, aber tatsächlich. Obwohl ich mich so viel mit Gleichstellung beschäftigt habe, über die Möglichkeit eines Sohnes habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Dahinter lag kein Wunsch nach einer Tochter. Sondern, wie es so oft ist: Im ganz Privaten ertappen wir uns dabei, die eigenen Themen nicht ganz zu Ende gedacht zu haben. Damit gingen bei mir die Überlegungen los: Was genau bedeutet das? Was bedeutet Geschlecht? Und vor allem: Warum sehe ich jetzt mein Kind als ein Projekt an, bevor es überhaupt auf die Welt gekommen ist?

STANDARD: Eltern von Söhnen hören oft Kommentare wie "Die sind halt so", wenn sie besonders laut und wild sind. Eltern von Mädchen, wenn sie ruhig mit Freundinnen Puppen spielen. Wie handhaben Sie solche Kommentare?

Behjat: Das ist frustrierend. Sie können sich vorstellen, wie oft ich jetzt im privaten Bereich darauf angesprochen werde. Dieses "Die sind halt so" geht ja ins Positive und ins Negative. Wenn Buben Streiche spielen, die dann zum Teil auch echt böse sind, wird das gern verharmlost. Oder wenn sie grob sind. Man verteufelt sie, gleichzeitig versucht man aber auch, sie schnell zu entlasten mit diesem "Sie sind halt so, die Jungs". Das zeigt unser ambivalentes Verhältnis zu Männlichkeit. Oder denken wir an diesen Running Gag, dass Väter von Töchtern gleich eine Hochsicherheitszone um sie herumbauen wollen, damit sie ja nicht auf andere Männer treffen. Das ist ein Armutszeugnis für das Image von Männlichkeit. Auch unsere Tagesmutter hatte immer diesen Spruch über unsere Jungs: "Die sind so wild." Erst war ich ganz entsetzt und fragte mich, was machen denn meine Kinder, um Gottes willen! Es werden komplett unterschiedliche Maßstäbe angelegt, und das geht eben schon beim einfachen Blick auf Mädchen und Jungen los. Heute hat man Freude an lebhaften Mädchen, die machen, was sie wollen. Bei Jungs heißt es dann schnell: Geh mal raus, du hast so viel Energie. Geh mal Fußball spielen. Die Sorge vor dieser männlichen Kraft kommt natürlich nicht von ungefähr. Dahinter stehen jahrhundertealte Traumata, aber heute eben auch knallharte Vorbehalte.

Shila Behjat, 1982 geboren, ist Journalistin und Publizistin. Sie arbeitete unter anderem als Journalistin in Indien und berichtete über Gleichstellung in der EU. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Shila Behjat, 1982 geboren, ist Journalistin und Publizistin. Sie arbeitete unter anderem als Journalistin in Indien und berichtete über Gleichstellung in der EU. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Neda Rajabi

STANDARD: Also haben sich die Botschaften vor allem für Mädchen geändert?

Behjat: Es gibt dieses berühmte Plakat vom Women's March, auf dem steht: I don't want to be a Princess, I want to be a CEO. Und das ist heute natürlich eine wichtige Aussage für Frauen. Doch wenn das unter einem Jungen stünde, hätte man sofort ganz andere Bilder im Kopf. Es ist kein empowertes Bild, sondern man denkt gleich an alle möglichen erschreckenden Gestalten wie Elon Musk. Auch ich selbst musste bei mir erkennen, wie stark ich Menschen danach kategorisiert habe. Ich habe jede Errungenschaft von Mädchen und Frauen gefeiert und mich nie gefragt, was das eigentlich für Männer in Zukunft bedeuten wird.

STANDARD: Sehr oft gelten aber noch immer Mädchen schneller als zu laut oder zu wild, wohingegen das bei Buben eben eher akzeptiert wird.

Behjat: Die Erziehung von Söhnen ist heutzutage eine Herausforderung, weil wir uns heute von ihnen anderes erwarten. Aber welche Mutter würde jetzt ihr Kind dazu erziehen wollen, dass es sich stets in die zweite Reihe stellt? Gleichzeitig wollen wir Unterdrückungsstrukturen, Gewalt, die zum größten Teil von Männern ausgeht, reduzieren. Es ist eine große Verantwortung, die Söhne, die die Männer von morgen werden, großzuziehen. Ich habe mich gefragt: Warum schauen wir da so wenig hin, wo wir doch wissen, um was es hier geht? Wir wollen ja im Grunde dorthin, dass man den Jungs ermöglicht, genauso gute Menschen zu werden und ihre eigenen Träume zu erfüllen, wie man sich das heute für Mädchen wünscht. Also genau in dieser Kombination: gute Menschen und eigene Selbstverwirklichung.

STANDARD: Wie kommen wir angesichts der Geschlechterordnung, in der wir uns immer noch befinden, hin?

Behjat: Klar ist, es muss etwas ganz Neues her. Angesichts dessen, dass es für einen Mann immer noch sehr viel einfacher ist, sich Raum zu nehmen. Männer sind es gewohnt, weil es ihnen auch so vorgelebt wurde. Wie wir damit bei der Erziehung von Buben umgehen, das ist eine Frage, die sich der Feminismus stellen muss. Was machen wir mit "unseren" Männern? Feminismus muss heute wirklich und ernsthaft bedeuten, das Patriarchat zu bekämpfen, aber nicht die Männer per se. Wir brauchen sie als Mitstreiter, anders geht es nicht. Es geht ja nicht nur um die Söhne, sondern auch um die Partner, die Väter. Man kann das nicht wegignorieren, die sind ja da. Und im besten Fall werden sie Mitarbeiter dieses großen Projekts. Es muss um echte Gerechtigkeit für alle gehen, und es darf nicht wieder eine neue Hierarchisierung entstehen. Das ist ein neuer Weg, den sind wir noch nie gegangen.

Shila Behjat,
Shila Behjat, "Söhne großziehen als Feministin. Ein Streitgespräch mit mir selbst". € 23,70 / 200 Seiten. Hanser-Verlag, 2024.
Hanser

STANDARD: Aber ist es nicht ein notwendiger Zwischenschritt, jetzt Frauen und Mädchen positiv zu diskriminieren?

Behjat: Genau das habe ich auch miterstritten, bevor ich Kinder bekommen habe. Ich dachte, da müssten die Männer durch, dass es jetzt bei ihnen vereinzelt zu Diskriminierungen kommen wird, weil es ja jahrtausendelang den Frauen auch so gegangen ist. Aber haben wir dann etwas gewonnen? Das Hauptargument, gegen diese Benachteiligung von Frauen vorzugehen, war, dass es nicht gerecht ist. Eine neue Art der Ungerechtigkeit aufgrund der Aufhebung der alten Ungerechtigkeit, das leuchtet mir einfach nicht ein. Wir stehen da an einem Punkt, der neu ist und den wir neu aushandeln müssen. Wir müssten dorthin kommen, dass das Geschlecht gar keine Relevanz mehr hat. Dass die Aussage, ich bin gerne eine Frau, ich bin gerne ein Mann, ich bin gerne eine nonbinäre Person, eigentlich überhaupt keine weitere Aussage mehr ist, sondern wirklich nur diese.

STANDARD: Der Feminismus hat uns aber an einen Punkt gebracht, dass man spontan denkt, wenn man einen Buben erwartet: Oje, hoffentlich wird das kein "Arschloch", wie Sie es in Ihrem Buch formuliert haben?

Behjat: Einerseits hat man diesen Impuls, andererseits verurteilt man sich als Mutter dafür, dass man das überhaupt über sein eigenes Kind denken würde. Und das ist ja auch richtig. Dann bin ich in diesem Moment keinen Deut besser als die Menschen, die mein Kind vorverurteilen.

STANDARD: Sie schreiben, ein Problem sei auch der starke Fokus auf Leistung. Inwiefern?

Behjat: Der Feminismus ist in der westlichen Welt in eine riesige Falle getappt. Es wurde stark auf die Arbeitswelt fokussiert. Das gesamte Empowerment und der Fortschritt der Emanzipation von Frauen wurde darauf reduziert, wie weit eine Frau in der Arbeitswelt kommt. Das hat dazu geführt, dass die großen Probleme nicht gelöst wurden und dass wir immer in diese Pattsituation kommen als Frau, die schon millionenfach besprochen wurde: dass sich bezahlte Arbeit und Kinderbetreuung gegenseitig ausschließen und man immer in diese Situation kommt, sich für das eine oder für das andere entscheiden zu müssen. Demnach besteht ein feministische Akt darin, von den Kindern weg zu sein, in der bezahlten Arbeit. Diese totale Überbewertung von bezahlter Arbeit und gleichzeitig die totale Abwertung von Mutterschaft, das ist für mich ein System, das ich nicht mehr mittragen möchte.

STANDARD: Was kann man als feministische Mutter tun, um den Wandel voranzutreiben?

Behjat: Ganz klar, erstens sich selbst von alten Rollenbildern befreien, vor allem Männern gegenüber. Und gleichzeitig dafür sorgen, dass unsere Söhne sich ihrer Verantwortung als männlich gelesene Menschen bewusst sind. Einen neuen Blick auf die Männlichkeit zu werfen bedeutet eben nicht zurück zum Alten, sondern immer wieder der Frage zu begegnen: Wie sieht das Neue aus? Wie sehen Männer aus, die sich wirklich gegen männliche Gewalt stellen? Männliche Gewalt, die auch ihnen selbst schadet. Das klingt tatsächlich sehr theoretisch, aber jede Mutter weiß, dass es in den kleinen Momenten liegt, wenn der Sohn seine Stärke und seine Kraft ausspielt. In welcher Haltung tut er das? In welchem Selbstverständnis? Geht es um eine spielerische Neugier, dann sollten wir sie nicht vorverurteilen. Trotzdem müssen wir mit ihnen über Aggressivität und Gewalt sprechen. Erziehung ist, wie alle Eltern wissen, jeden Tag aufs Neue ein Ausloten der verschiedenen Themen, Ziele, Wünsche und natürlich des Wunsches, dem Kind den größtmöglichen Spielraum zu geben, sich selbst zu entfalten. In dieser Selbstentfaltung liegt auch eine Antwort auf die Frage. Denn ich bin überzeugt, dass nur Jungs, die völlig frei von alten Rollenmustern aufwachsen können, wirklich in der Lage sind zu verstehen, wie sie die Freiheit und Unversehrtheit anderer schützen können.

STANDARD: Sie sagen, dass Mütter zentrale Protagonistinnen für die Gestaltung neuer Männlichkeiten sind. Aber ist es nicht eine Überforderung? Es gibt so viele andere Einflüsse, die mit zunehmendem Alter immer stärker werden.

Behjat: Das stimmt. Irgendwann wird der Einfluss kleiner, nichtsdestotrotz ist er in den ersten Jahren stark. Die Rolle der Mutter ist für mich deswegen so wichtig hervorzuheben, weil sie gerade so abgewertet wird und im Grunde nur als Problemfall dargestellt wird. Meine Söhne sind in einem Alter, wo digitale Medien zunehmend Raum einnehmen. Was dort zum Thema Männlichkeit abgeht – da muss man schon sagen: Bei diesen Männerbildern, die hier auf Jungs einprasseln, müssen die Mütter eine ganz entscheidende Rolle übernehmen. Gerade die, die sich mit Feminismus beschäftigen.

STANDARD: Und was ist mit den Vätern?

Behjat: Ich bin froh, heute eine Frau zu sein, weil ich das Gefühl habe, einen großen Teil des Weges schon gegangen zu sein. Viele Einsichten und neue Einstellungen – davon haben wir Frauen schon sehr viel hinter uns gebracht. Männer stehen am Anfang damit, wie sie in dieser Konstellation von Geschlechtern sein wollen und wie sie ihre Söhne erziehen müssen. Ich habe in dem Buch immer wieder versucht anzusetzen, über die Rolle von Vätern zu schreiben, und kam immer wieder in diesen Empfehlungsmodus, gegen den ich aber eine starke Abwehr hatte – und schließlich habe ich es gelassen. Die müssen das schon selbst rausfinden, ich will ihnen diese Arbeit nicht abnehmen. (Beate Hausbichler, 22. 5.2024)