Die Autorin und Regisseurin Doris Dörrie sitzt auf einem Stuhl und sieht in die Kamera
Doris Dörrie (68) ist deutsche Filmregisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. 1985 wurde sie mit ihrem Film "Männer" einem breiten Publikum bekannt.
Constantin Film Verleih GmbH / Dieter Mayr

Doris Dörrie hat in den 1980er-Jahren den Deutschen das Lachen übers Pa­triarchat beigebracht: Mit dem Kinohit Männer begann ihre Karriere als Regisseurin. Danach hat sie mehr als 20 Filme gedreht, einige auch an exotischen Orten wie Japan und Spanien. Sie schreibt Bücher und Kolumnen, unterrichtet im Ausland und ist Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die jährlich die Oscars vergibt. Wenn sie nicht gerade unterwegs ist, packt die 68-jährige Wahlmünchnerin ihre Souvenirs aus aller Welt aus – und denkt über eine neue Reise nach.

STANDARD: Frau Dörrie, gerade haben Sie mit "Die Reisgöttin und andere Mitbringsel" ein Anekdotenbuch übers Unterwegssein veröffentlicht. Was wäre Ihr Leben ohne Reisen?

Dörrie: Schwer vorstellbar für mich. Ich muss tatsächlich viel unterwegs sein, weil ich mich sehr ernähre von den Eindrücken, die ich habe, wenn ich reise. Durch die Pandemie hat sich meine Einstellung dazu allerdings verändert, sie hat ein Nachdenken über ­größere Nachhaltigkeit angestoßen. Ich versuche jetzt, so weit wie möglich in Europa mit dem Zug zu fahren und mir bei Flugreisen zu überlegen, länger im Land zu bleiben.

STANDARD: Nach der Lektüre wissen wir, Sie haben bestimmte Orte, an denen Sie sich gern aufhalten.

Dörrie: Ja, ich bin oft nach Tokio gefahren, nach Mexico City, Los Angeles oder Barcelona.

STANDARD: Außerhalb von Städten fühlen Sie sich ­unwohl?

Dörrie: Wenn ich in Japan ankomme, setze ich mich in Tokio in einen Zug, fahre aufs Land, in irgendeinen Ort mit Bad und heißer Quelle. Das ist die ultimative japanische Erfahrung: in einem Onsen zu sitzen, neben anderen Frauen, und einfach nur zu schauen.

STANDARD: Das Land hat es Ihnen sehr angetan, oder?

Dörrie: Ich habe eine komplizierte Liebe zu Japan. Manche Dinge finde ich schwer erträglich. Zum Beispiel den unendlichen Machismo, dieses Patriarchat aus Beton, was sich nur langsam verändert. Ich habe einige Filme im Land gedreht, aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das oft als Regisseurin mühsam, ärgerlich und schwierig ist. Gleichzeitig fasziniert mich die andere Art, auf die Welt zu schauen und die Dinge in Beziehung zu setzen. Wie sehr agiere ich als Individuum, wie sehr sehe ich mich in Verbindung mit anderen? Das finde ich absolut nachahmenswert.

STANDARD: Kleine Dinge bringen Sie aus Japan mit nach Hause: Bürsten, Teller, eine Feuerwehrmütze. Sie haben sogar einen Buddha aus einem Mülleimer in Kioto gerettet. Wo ziehen Sie bei Souvenirs die Grenze?

Dörrie: Bei der Größe. Es muss auf jeden Fall ins Handgepäck passen – und darf keinen hohen materiellen Wert haben, sondern muss mir beinahe zugelaufen sein. Ich würde niemals einen teuren antiquarischen Gegenstand erwerben, ich suche nach Dingen, die das Land für mich beschreiben.

STANDARD: Ist eine Reise erst komplett, wenn Sie ein ­Souvenir gefunden haben?

Dörrie: Nein, das nicht. Aber es ist schön, ein Andenken zu haben. Etwas, was mir von dieser Reise erzählt – und gleichzeitig etwas über mich selbst.

STANDARD: Was erzählt Ihnen der Buddha aus dem ­Abfall?

Dörrie: Dass ich ihn überhaupt gefunden habe! Er erzählt von der Hingabe, mit der ihn der Hausmeister in Kioto liebevoll repariert hat. Von einem neuen Leben, das die Figur in meinem Münchner Haus bekommen hat.

STANDARD: Können Sie sich erinnern, wer oder was die Reiselust in Ihnen geweckt hat?

Dörrie: Das waren meine Eltern. Bestimmt hatte das noch mit dem Faschismus zu tun, als sie gar nicht mehr das Land verlassen konnten. Nach dem Krieg hatten sie ein großes Fernweh – und gleichzeitig diese sehr deutsche Vorstellung, dass man eine Reise antritt, um das Herz und den Verstand zu bilden.

STANDARD: Zuerst fuhren Sie als Kinder an die deutsche Ostseeküste, wo es Ihren Eltern gar nicht ­behagte.

Dörrie: Das Wetter war selbst im Sommer unkalkulierbar, meine Mutter hatte es irgendwann satt, ihre Kinder ständig an- und auszuziehen. Bademantel an, Socken an, manchmal sogar Pudelmütze auf. Also sind wir Richtung Süden gefahren, an die Adria, nach Bibione zum Beispiel, wo sie diese Sorgen los war. Wir haben morgens die Badekleidung angezogen – und das war’s.

STANDARD: Wie haben Sie als Kind in den 1960er-Jahren diese Ferien erlebt?

Dörrie: Aus Hannover nach Italien zu fahren, das war überwältigend. Allein weil wir Kinder Spaghetti essen durften, so viel wir wollten, von morgens bis abends. Ich kann mich noch an die Italienerinnen und Italiener erinnern, die sich mit einer Mischung aus Olivenöl und Zitrone eingerieben haben, was einen richtigen Grilleffekt hatte. Den ganzen Tag haben wir am Strand gespielt, miteinander und mit Fremden, wir haben uns bewegt, bis wir umgefallen sind.

STANDARD: Mit 18 Jahren haben Sie einen großen Schritt gewagt und sind allein in die USA gegangen, um in Kalifornien zu studieren.

Dörrie: In Hannover bin ich abgeflogen, in London-Heathrow musste ich umsteigen – und plötzlich war da die ganze Welt. So viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen! Das fand ich umwerfend. Kalifornien war zu Beginn ein ziemlicher Kulturschock. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wie alles in Amerika funktioniert, ich konnte auch nur relativ schlecht Englisch. Sehr rasch habe ich gelernt, schnell und vor allem unterhaltsam zu sprechen.

STANDARD: Haben Sie auch das Land erkundet?

Dörrie: Ich habe mir ein Auto geliehen, bin durch ganz Kalifornien gefahren, diesen berühmten Highway Number One von Nord nach Süd, dann rüber in die angrenzenden Bundesstaaten. Zu großen Teilen sogar allein. Ich hatte ein einschneidendes Erlebnis in Arizona, nach dem ich nicht mehr allein gefahren bin. Nachts auf der Autobahn, im schlimmsten Schneegestöber, hat ständig ein Lkw versucht, mich von hinten anzustoßen. Das Spiel hat er mit mir über Stunden getrieben – wie im Film Duel von Steven Spielberg. Ich hatte panische Angst, bis er irgendwann die Lust verlor und mich hupend überholt hat. Danach habe ich erstmal angehalten und sehr lange gezittert.

STANDARD: Der Gründer von "Wallpaper" und "Monocle", Tyler Brûlé, zieht es vor, in manchen Hotels immer im selben Zimmer zu übernachten, um seine intime Beziehung mit dem Haus nicht zu zerstören. Für welches Hotel empfinden Sie das ähnlich?

Dörrie: Die Frage stellt sich mir eher selten, weil wir bei Dreharbeiten meist in billigen Hotels wohnen. Aber für den Film Kirschblüten & Dämonen habe ich in Chigasaki-kan übernachtet, einem traditionellen Ryokan mit wenigen Zimmern in einer Kleinstadt am Meer, außerhalb von Tokio. Da habe ich im Room 2 übernachtet, im selben Zimmer, in dem der berühmte Regisseur Yasujirō Ozu gewohnt und gedreht hat.

Doris Dörrie steht mit Sonnenbrille, weitem Schal und Mantel an eine gelbe Hausmauer gelehnt.
In Doris Dörries neuestem Buch spielen Mitbringsel eine wichtige Rolle. Die Autorin schätzt günstige Souvenirs.
imago/Astrid Schmidhuber

STANDARD: Kürzlich hat der Schauspieler Eugene Levy eine Apple-TV-Serie gedreht, "The Reluctant Traveller", in der er erzählt, wie nervös ihn Reisen machen: das Packen, das Stehen in der Schlange, das Fliegen. Quälen Sie solche Ängste, bevor Sie auf die Reisen gehen?

Dörrie: Überhaupt nicht. Ich bekomme Angst, wenn ich irgendwo bleiben muss. Für mich war die Pandemie anfangs deshalb so furchteinflößend, weil ich nicht wegkonnte. In dem Moment, in dem ich mich in Bewegung setzen darf, fühle ich mich nicht mehr zuständig für mich selbst. Dinge passieren mir einfach, ohne dass ich aktiv eingreife. Danach sehne ich mich. Auf Reisen bin ich wachsamer und aufmerksamer, als würde ich auf den Zehenspitzen durch die Welt gehen. Diese Wachheit führt dazu, dass man sich wirklich in der Gegenwart aufhält – wozu einen doch im Moment tausende Achtsamkeitsberater anhalten.

STANDARD: Im Buch schreiben Sie, dass Sie sich am ersten Tag Ihrer Mexikoreise gleich in die Feierlichkeiten zum Tag der Toten gestürzt haben, zu viel Mezcal getrunken haben und im Rausch U-Bahn gefahren sind.

Dörrie: Na gut, vorher bin ich bei der Landung fast abgestürzt, weil noch ein anderes Flugzeug auf der Landebahn stand. Nach solch einem Erlebnis ist man natürlich wach. Aber ich genieße generell das Neue, die Neugier, den genaueren Blick. Ich bin dabei nicht dämlich und unvorsichtig. Aber ich denke schon, dass ich beim Reisen eine Tarnkappe der Unschuld trage, die mich eine gewisse Zeit vor Gefahren schützt. Sie lässt mich zur Beobachterin werden, weil ich nicht Teil des Alltags bin.

STANDARD: Was keinesfalls heißt, dass Sie passiv am Rand sitzen. Sie gehen auf Menschen zu, wollen verstehen, wie ein Land funktioniert.

Dörrie: Ich bedauere inzwischen sehr, dass man nicht mehr so leicht ratschen kann wie früher, als die Menschen noch keine Smartphones besaßen. Da habe ich manchmal Stunden an Haltestellen und Bahnhöfen überall auf der Welt gewartet, niemand wusste genau, wann der Bus genau kommt – und da beginnt man mit den anderen Wartenden zu reden. Oder in Los Angeles, da gibt es einen Bus, der fährt vom Strand nach Downtown. Das ist für mich wie ein großes Theaterstück. Im Umkreis von Santa Monica steigen Leute in Anzügen ein, die einen Starbucks-Kaffee für 7,85 Dollar in den Händen halten. In Beverly Hills verlassen sie spätestens den Bus, und die unendlich vielen Helfer und Helferinnen kommen an Bord, jene Menschen, die für das Funktionieren einer Stadt sorgen. Da einfach sitzen zu bleiben und Zeugin der Stadt zu werden, finde ich großartig.

STANDARD: Gibt es ein Land oder eine Region, die Sie gar nicht mehr reizt?

Dörrie: Ich habe mit großem Bedauern festgestellt, dass meine Sehnsucht nach den USA nachgelassen hat. Das hängt mit der Politik zusammen, mit Trump. Was gemein ist. Es ist nicht fair, ganze Länder nach ihrer Politik zu beurteilen. Dennoch muss ich mich ein bisschen überwinden, um zu sagen: Die USA möchte ich mir wieder anschauen. Ich habe keine Lust auf unversöhnliche Streitereien. Darauf läuft es aber hinaus, wenn ich die Amerikaner nach ihrer politischen Einstellung frage. Zum Glück gibt es ­andere Länder, die mich erst mal interessieren.

STANDARD: Zum Beispiel?

Dörrie: Georgien. Ich war so oft eingeladen und habe es nie geschafft. In vielen afrikanischen Ländern bin ich noch nie gewesen. Gern würde ich wieder nach Korea fahren.

STANDARD: Würden Sie das als Erholung bezeichnen?

Dörrie: Richtigen Urlaub kenne ich gar nicht. Ich lege mich gern mal an den Strand, aber nur? Ich weiß gar nicht, wie ich das trennen soll: Was gehört zum Urlaub, was nicht? Rumfahren, schauen und darüber schreiben, das ist mir das Allerliebste. (RONDO, Ulf Lippitz, 23.5.2024)

Das Buchcover zu Doris Dörrie's Buch
Doris Dörrie: "Die Reisgöttin und andere Mitbringsel", bei Diogenes Tapir erschienen, € 25,50
Diogenes Tapir