Mit einseitigen Grenzverschiebungen kennt sich Russland aus. Jüngste Beispiele sind die völkerrechtswidrigen Annexionen der vier ukrainischen Regionen Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk sowie jene der Krim 2014. Russland hat sie mit Waffengewalt und Panzern zu Lande durchgesetzt. Nun zündelt Russlands Verteidigungsministerium offenbar nicht nur zu Lande, sondern will auch in den Gewässern ein neues Fass aufmachen beziehungsweise gleich mehrere Fässer.

Im Finnischen Meerbusen, an dessen östlichem Ende auch Sankt Petersburg liegt, ist Russland von Nato-Staaten umgeben.
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Einigen im Ministerium passt nämlich offenbar die Grenzziehung in zwei Regionen nicht. So berichtete zumindest die Moscow Times über einen Entwurf, den man aber wenige Stunden später ebenso wenig offiziell wieder dementierte. Mittlerweile verschwand er auch wieder von der Webseite, nachdem sich die finnischen Nachbarn irritiert gezeigt hatten. Worum ging es bei dem Entwurf? Einerseits um die Seegrenzziehung im Umfeld der Exklave Kaliningrad, in der Nähe der Kurischen Nehrung bei Litauen. Andererseits um den Osten des Finnischen Meerbusens, jener Bucht, in der sich Russland spätestens seit dem Nato-Beitritt der Finnen eingeengt fühlt. Es gehe um kleine Inselchen, präzise Koordinaten wurden aber keine genannt.

Eigene Fehler und verschobene Grenzen

Im Grunde gesteht man diesmal von russischer Seite jedoch ausnahmsweise eigene Fehler ein. So seien die bisher gültigen Koordinaten, die auf einer Resolution der Sowjetunion aus dem Jahr 1985 basieren, schlichtweg unpräzise – und würden, so die Argumentation, "nicht vollumfänglich mit der aktuellen geografischen Situation korrelieren". Das liege auch daran, dass die für die Grenzziehung auf hoher See entscheidenden Basispunkte am Ufer aus Navigationskarten in recht kleinem Format aus dem 20. Jahrhundert entsprangen.

Nun sind Grenzen nicht in Stein gemeißelt. Menschen haben sie gezogen, oftmals anhand geografischer Merkmale. Doch geografische Merkmale können sich ändern. Vulkanische Aktivitäten können etwa neue Inseln zutage fördern oder die Fläche eines Kontinents vergrößern. Wenn sich auf natürliche Weise der Verlauf eines Grenzflusses verändert, so ändert sich für gewöhnlich auch die Grenze mit. Das ist Völkergewohnheitsrecht. Wie ist das nun aber mit Seegrenzen?

Im Groben nicht viel anders als mit nationalen Grenzen zu Lande, im Detail natürlich schon. Aber der Reihe nach: Im Grunde folgt heutzutage auch auf See die Grenzziehung einem einfachen Schema. Dort, wo die Ansprüche zweier Staaten aufeinandertreffen, geben beide Seiten die jeweiligen Ansprüche bekannt. Man einigt sich dann auf eine gemeinsame Grenzziehung oder zieht vor ein internationales Schiedsgericht, um dort den Streit zu schlichten. Am Ende werden die Details der Grenzziehung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des UN-Seerechtsübereinkommens bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Russland, Finnland und Litauen sind wie die überwältigende Mehrheit aller UN-Mitglieder Unterzeichner des Abkommens.

Es geht nur in Abstimmung

Wer Grenzen jedoch versucht unilateral oder gar mit Waffengewalt zu verschieben, kann nicht damit rechnen, dass dies von der internationalen Staatengemeinschaft akzeptiert wird. Die Zeiten von Krieg sind zwar noch nicht vorbei, wie man aktuell sieht. Die Zeiten, als Angriffskriege zur Eroberung von Land akzeptiert wurden, jedoch schon. Nicht zuletzt durch das Gewaltverbot in der UN-Charta.

Aber zurück zur Frage der Grenzziehung auf hoher See: Das 1982 beschlossene und 1994 in Kraft getretene Seerechtsübereinkommen ersetzte bis dahin geltende Konventionen. In mehr als 300 Artikeln und neun Zusätzen wird etwa geklärt, was ein Kriegsschiff ist, wer wo forschen darf, aber auch, was Hoheitsgewässer sind. Für die Grenzziehung entlang der Küsten ist dabei die (von Russland infrage gestellte) Basislinie entscheidend. Sie dient als Basis für vier entscheidende Zonen und kann manch interne Gewässer wie kleinere Buchten unter Umständen durchaus einschließen. Ab dort gelten die zwölf nautischen Meilen (=22,22 Kilometer) Hoheitsgewässer. Sie sind Teil des Staatsgebiets, es gilt das Recht des Staates, und fremde Schiffe dürfen nur dann ohne vorherige Genehmigung einfahren, wenn sie das Gebiet zügig und ohne Unterbrechung in friedlicher Absicht durchqueren.

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Darauf folgt eine weitere zwölf Seemeilen breite Zone, in der Staaten Rechtsbrecher etwa noch verfolgen können, sollten diese versuchen, auf die hohe See zu flüchten. Letztere Zone beginnt für gewöhnlich erst ab 200 Seemeilen von der Basislinie, nach Ende der ausschließlichen Wirtschaftszone – außer ein Staat kann durch Messungen beweisen, dass der Festlandsockel noch keine 200 Meter tief abgefallen ist. Dann kann es insgesamt bis zu 350 Seemeilen an Wirtschaftszone geben, in der exklusiv gefischt und Bodenschätze abgebaut werden dürfen.

Dies alles gilt freilich nur dort, wo keine Ansprüche aufeinanderprallen. Dort, wo dies geschieht, gibt es komplexe Verfahren, die eine möglichst faire Aufteilung der Gewässer zu finden suchen. All das muss bi- oder multilateral erfolgen. Unilateral, wie von russischer Seite womöglich ins Spiel gebracht wurde, geht völkerrechtskonform auf keinen Fall. (Fabian Sommavilla, 22.5.2024)