Tadej Pogacar
Für Tadej Pogacar ist der Giro ein einziger Triumphzug.
EPA/LUCA ZENNARO

Wien – Tadej Pogacar ist gerade im Begriff, die Italien-Radrundfahrt siegreich quasi auf einer Backe abzusitzen. Mit einem hochgebundenen Bein könnte wohl selbst er sich nicht im Rosa Trikot des Gesamtführenden halten, aber fast traut man dem 25-jährigen Slowenen auch das zu. Zu sehr beherrscht er die erste der drei großen Landesrundfahrten dieser Saison, zu schicksalsergeben ist die zuletzt vom Kolumbianer Daniel Martinez beim Hinterherhecheln angeführte Konkurrenz.

Pogacars Sieg am Sonntag in Rom stand, so scheint es, schon fest, als er seinen Plan verkündete, das Saisondouble aus Siegen beim Giro und der Tour de France anzupeilen. Dieses Kunststück ist bisher nur sieben Radprofis gelungen und zum letzten Mal in einer Zeit, die als die giftigste in der Geschichte der Giganten der Landstraße gilt. 1998 hatte Marco Pantani dem Heimsieg beim Giro auch den Triumph bei der Großen Schleife in Frankreich folgen lassen. Im Jahr darauf hob die Enttarnung des Piraten aus Cesenatico als Doper an.

Gottgegebenes Talent

Pogacar, der 2017 unter den Profis aufschlug, seit 2019 für das UAE Team Emirates unterwegs ist und in Kalifornien mit 20 Jahren zum bisher jüngsten Sieger eines World-Tour-Rennens avancierte, verfolgten spätestens nach seinem Gesamttriumph beim Tour-de-France-Debüt 2020 einschlägige Gerüchte. Nicht anders, so schien es, ließ sich erklären, wie er zum zweitjüngsten Tour-Sieger nach dem Franzosen Henri Cornet werden konnte, der 1904, bei der erst zweiten Austragung des Rennens, als 19-Jähriger die Oberhand in einem überschaubaren Feld von Enthusiasten behalten hatte.

Jeroen Swart hatte und hat eine Erklärung für Pogacars Stärke in allen für den Radsport relevanten Belangen. "Er ist einer dieser Fahrer, die es einmal in jeder Generation gibt", sagte der Sportmediziner aus Südafrika, der an der Uni Kapstadt lehrt und zugegebenermaßen befangen sein könnte, ist der 49-Jährige doch der Teamarzt von UAE Team Emirates, dem Arbeitgeber von Pogacar. Der sei also mit einem überragenden Talent gesegnet. Schlagen sich da Erfahrung und allgemein Reife dazu, dann gnade Gott der Konkurrenz.

Schwer geprüfte Konkurrenz

Die ist just in diesem Jahr vom Pech verfolgt. Allen voran Jonas Vingegaard, der nach seinem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt, bei dem er sich eine Schlüsselbeinfraktur, mehrere Rippenbrüche und eine Lungenquetschung zugezogen sowie einen Pneumothorax erlitten hat, erst seit zwei Wochen wieder auf dem Rad sitzt. Von vollumfänglichem Training ist beim Kapitän des Teams Visma-Lease a Bike noch nicht die Rede, dabei hat der 27-jährige Däne ab 29. Juni seinen Titel bei der Tour de France zu verteidigen, die in diesem Jahr in Florenz gestartet und wegen der Olympischen Spiele in Paris ausnahmsweise in Nizza finalisiert wird.

Vingegaard nennt Pogacar denn auch wohl nur höflichkeitshalber als Ersten beim Vornamen, wenn er seiner Freude Ausdruck verleiht, sich im Juli "mit Jonas, Remco und Primoz" messen zu dürfen. Der Belgier Remco Evenepoel vom Team Soudal Quick-Step und sein slowenischer Landsmann Primoz Roglic von Bora-Hansgrohe gelten Pogacar als weit gefährlichere Gegner. Sie haben sich den Giro erspart, den Pogacar entgegen seiner Ankündigung zumindest auf den wichtigen Etappen nicht mit Halbgas gefahren ist, wie die bisher fünf Tagessiege bezeugen. Wie die sieben Doublesieger vor ihm – Fausto Coppi, Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault, Stephen Roche, Miguel Indurain und eben Pantani – hoffe er, "mit intakter Moral und entspannt nach einem guten Trainingslager" zur Tour fahren zu können. "Ich denke, ich werde gut genug sein."

Ein Kindheitstraum

Für den Giro war der Mann aus Klanec in Oberkrain, der in Monaco lebt, jedenfalls zu gut. Ihn zu gewinnen, hatte Pogacar vor dem Start in Turin gesagt, sei ein Kindheitstraum. Mit seinem Vater hatte der kleine Tadej einige Etappen im Nachbarland besucht, besonders erinnerlich ist ihm ein Tagessieg des Slowenen Luka Mezgec 2014 in Triest. Seit Landmann Roglic den Giro im Vorjahr gewonnen hatte, war Pogacar die Teilnahme nicht mehr auszureden.

Der Angriff aufs Double steht auch einem Profi gut an, der von sich im Gespräch mit L'Équipe sagte, der Beste aller Zeiten werden zu wollen. Ohnehin nennen sie Pogacar in Anlehnung an den ewigen Belgier Merckx den neuen Kannibalen, gewinnt er doch Klassiker ebenso wie lange Rundfahrten. Und auch das Regenbogentrikot des Weltmeisters sollte dem Mann aus Krain nicht zu groß sein, vielleicht schon in diesem Jahr Ende September in und um Zürich – nach Gewinn des olympischen Radstraßenrennens selbstverständlich. Der Titel bei der Vuelta, der Spanien-Rundfahrt, muss noch warten, ebenso wie der Sieg bei Paris–Roubaix. Alles kann selbst ein Nimmersatt wie Pogacar in nur einer Saison nicht verdauen.

Wille und Instinkt

Neben der mit den Jahren zunehmenden körperlichen Reife sprechen vor allem zwei Stärken dafür, dass Pogacar alle seine Ziele erreichen kann: der Wille, auch in aussichtslosen Situationen ans Limit heranzugehen, und der Instinkt des vollendeten Rennfahrers. Von taktischen Zwängen, so sagte er einst, lasse er sich nur ungern bremsen, er handle lieber je nach Rennsituation: "Das ist Radsport. Du kannst Plan A, B und C haben, und am Ende kommt doch alles ganz anders." Freilich lauert auf jedem der letzten Kilometer des noch andauernden Giro die Gefahr, dass es ganz anders kommt. Auf einen Sieger namens Pogacar kann man sich dennoch getrost festlegen. (Sigi Lützow, 24.5.2024)