Christian Schads "Selbstbildnis mit Modell" von 1927 erzählt vom sich wandelnden Geschlechterverhältnis: Eine Narzisse im Hintergrund deutet an, dass hier das individuelle, narzisstische Glück gesucht wird, weniger die Zweisamkeit.
Bildrecht, Tate, Schad-Stiftung

Wenn die Zeiten unruhig werden, reagiert die Gesellschaft und mit ihr die Kunst üblicherweise auf zwei gegensätzliche Arten: Rückzug und Abkehr bis hin zur Apathie oder radikale Hinwendung und Engagement. Sagen und zeigen, was ist. Nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg mit seinen bis zu 17 Millionen Toten, entschied sich eine Gruppe von Kunstschaffenden im kriegsversehrten Deutschland für Letzteres. Otto Dix, George Grosz und Co verwarfen die Abstraktion und brachten den Realismus zurück. Von der Avantgarde der Vorkriegsjahre, dem Expressionismus, Impressionismus und Kubismus, ließen sie sich zwar inspirieren, man gab den realitätsabgewandten Stilen – wohl zu Unrecht – aber auch eine Mitschuld an der ekstatischen, rauschhaften und chaotischen Emotionsentladung des Kriegs.

Als Reaktion darauf entstanden in der Schweiz die sarkastisch-politische No-Future-Bewegung Dadaismus und in Dessau das auf "klare Kante" und Neuanfang setzende Bauhaus: Struktur, Ordnung, scharfe Umrisslinien, plakative Darstellung der Oberfläche, wie man es heute von gängigen Graphic Novels kennt, all das floss in den neorealistischen Stil ein, den der Leiter der Kunsthalle Mannheim, Gustav Friedrich Hartlaub, in der von ihm 1925 ausgerichteten namensgebenden Ausstellung "Neue Sachlichkeit" nannte. Seit einigen Jahren wird die vom Nationalsozialismus zu einem jähen Ende gezwungene Kunstrichtung wissenschaftlich genauer erforscht – im Wiener Leopold-Museum widmet ihr nun Direktor Hans Peter Wipplinger erstmals eine umfassende Schau in Österreich.

Lotte Lasersteins "Tennisspielerin" von 1929 tourt seit vier Jahren durch Ausstellungen in aller Welt. Die Künstlerin erfährt späte Anerkennung für ihre emanzipierten Frauendarstellungen.
Bildrecht/Laserstein-Archiv

150 Werke von 40 Künstlern und acht Künstlerinnen sind zu sehen – Frauen wie Lotte Laserstein oder Käthe Kollwitz, 1925 völlig ignoriert, werden heute mit Nachdruck dem Vergessen entrissen, auch wenn das heißt, dass man nach ihnen in gut versteckten Privatkollektionen suchen muss, weil die Museen sie nie sammelten.

Schon damals teilte man die Bewegung in einen linken und einen rechten Flügel ein: Grosz, Dix, Laserstein, Christian Schad, Karl Hofer oder der in Auschwitz ermordete Felix Nussbaum gehörten dem im Nachwirken zu größerem Ruhm gelangten linken, Verismus genannten, Kreis an, der es sich zum Ziel machte, das soziale Elend, den nicht enden wollenden Militarismus und aufkommenden Nazismus, aber auch die sich wandelnden Geschlechterverhältnisse, die Emanzipation, zu thematisieren.

Zu den positiven Überraschungen der mit Glanz und Elend übertitelten, sich über ein gesamtes Kellergeschoß erstreckenden Schau gehört aber, dass man auch der rechten, konservativen Ausformung, die teils im Nationalsozialismus weiterwirkte, Raum gab: Bei Künstlern wie Georg Schrimpf führte die Kriegserfahrung zu einer Idealisierung alter Werte. Klassizismus und christliche Ikonografie wurden hervorgekramt, in Porträts überhöhte man die Familie als geradezu heilig oder besann sich auf Stillleben. Zu einem häufig wiederkehrenden Symbol der Zeit wurde interessanterweise der Kaktus: resilient, genügsam, sich verpanzernd, aber auch phallisch erregt und angriffsbereit – wie es scheint, lässt sich in die Pflanze viel vom damaligen Zeitgeist hineininterpretieren.

Rudolf Schlichters Porträt der Prostituierten Margot (1924). Gewalt gegen Frauen war an der Tagesordnung, wie ein blaues Auge verdeutlicht. Die stolze Pose aber sagt: Ich lasse mich nicht unterkriegen.
Stiftung Stadtmuseum Berli

Die verständlich und sinnvoll in thematische Kapitel gegliederte Schau befasst sich auch mit dem schillernden Leben der Berliner Zwanzigerjahre, an denen – wie nicht zuletzt Serienhits wie Babylon Berlin zeigten – längst nicht alles golden war: Frauenmorde (die aus der Zeit stammende Bezeichnung "Lustmord" in der Ausstellung hätte man überdenken können) waren an der Tagesordnung und wurden von Künstlern der Neuen Sachlichkeit drastisch auch in Illustrationen für Zeitschriften geschildert; Prostitution (eindrücklich das Porträt Margot von Rudolf Schlichter), Schufterei zu Hungerlöhnen, Arbeitslosigkeit und technischer Wandel prägten den Alltag. Erstmals aber wurde in Homosexuellenclubs und Varietés auch alternativen Lebensmodellen Raum gegeben, Hedonismus als "Tanz auf dem Vulkan" ausgelebt, so lange es noch ging.

Und das war nicht lange. 1933 kam Hitler an die Macht, Künstler der Neuen Sachlichkeit emigrierten innerlich oder physisch ins Exil, ihre Bilder wurden als "entartet" verfemt. In Karl Hofers Bild Totentanz von 1946 "feiert" eine tote Festgesellschaft das Kriegsende. Hofer gehörte zu jenen, die bis zuletzt mahnten, dass die Entnazifizierung nie stattgefunden habe.

Wer sich auf die Bildkontexte und spannenden Saaltexte der Ausstellung einlässt, dem eröffnet sich eine wahre Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, die ihrer Tendenz nach so schrecklich heutig erscheint: Radikalisierung an den politischen Rändern, Geschlechterdebatten, technologische Überforderung. Die Schau sagt uns wahrscheinlich mehr über die Gegenwart als so manche Ausstellung dessen, was sich Gegenwartskunst nennt. Sie läuft nur bis 29. September, jeder wählende und wählbare Mensch dieses Landes sollte sie gesehen haben. (Stefan Weiss, 24.5.2024)