Neandertaler-Vater trägt junge Tochter auf den Schultern und hält in einer Hand einen hölzernen Speer, das Kleinkind hat seine Hände um den Hals des Vaters gelegt.
Zu frühen Familien gehörten auch Vertreterinnen und Vertreter der Neandertaler.
Tom Bjorklund

Unser Familienstammbaum reicht über die Grenzen des sogenannten modernen Menschen hinaus, der vor rund 50.000 Jahren in mehreren Wellen nach Europa kam. Er paarte sich mit den ansässigen Neandertalern: Davon zeugen ein bis zwei Prozent Neandertaler-DNA, die die meisten heute lebenden Menschen in sich haben. Doch wie diese Rendezvous genau vonstattengingen, ist weiterhin rätselhaft.

Den Fragen nach dem "Wann?" und dem "Wie lange?" ging eine neue Forschungsarbeit auf den Grund. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass Neandertaler und moderne Menschen vor rund 47.000 Jahren begannen, sexuell miteinander zu verkehren und gemeinsamen Nachwuchs zur Welt zu bringen. Diese intime Phase der Menschheitsgeschichte erstreckt sich über einen Zeitraum von 6800 Jahren, war also kein kurzlebiger Trend. Die Studie wurde kürzlich auf der Preprint-Plattform Biorxiv veröffentlicht, muss also noch fachlich begutachtet werden. Beteiligt waren Expertinnen und Experten des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der University of California in Berkeley in den USA.

Dafür analysierte das Team um Erstautor Leonardo Iasi die Genome von fast 60 Vertreterinnen und Vertretern des Homo sapiens, die vor 2200 bis 45.000 Jahren in Europa und Asien lebten. Verglichen wurden sie mit hunderten heute lebenden Menschen. So konnten die Fachleute die Evolution der Neandertaler-Gene rekonstruieren, die zu unterschiedlichen Anteilen erhalten sind. Sie berechneten ausgehend von jenen 16 Individuen der Stichprobe, die vor 40.000 bis 20.000 Jahren verstarben: 300 bis 1000 Generationen vor ihnen begann der Genfluss von Neandertalern zu modernen Menschen. Dieses Szenario passt zumindest am besten zu den Genominformationen.

Auf zu neuen Ufern

"Wenn sich das bestätigt, wäre das eine äußerst wichtige Erkenntnis", hält der Paläoanthropologe Chris Stringer vom Natural History Museum in London auf X, vormals Twitter, fest, der nicht an der Studie beteiligt war. Die Vermischungsereignisse wären damit "jünger als erwartet". Das heißt auch, dass die Vorfahren heute lebender indigener Australier frühestens vor 47.000 Jahren auf den Kontinent kamen. Denn auch sie tragen Neandertaler-DNA diesen Ursprungs in sich. Nur Personen, deren Vorfahren ausschließlich vom afrikanischen Kontinent stammen, tragen keine Neandertalergene in sich.

Auch sein Kollege Rajiv McCoy von der Johns Hopkins University im US-amerikanischen Baltimore hält die Studie für überzeugend: "Sie zeichnet das wahrscheinlich umfassendste Bild, das wir bisher über den Genfluss von Neandertalern in moderne menschliche Populationen haben", wird er in Science zitiert. Sie ist nicht nur genauer als frühere Arbeiten, sondern macht laut der Einschätzung des Genetikers Fernando Villanea von der University of Colorado in Boulder deutlich: Einer von 20 Menschen jener Population, die die Vorfahren aller heute lebender Menschen außerhalb von Afrika bilden, war ein Neandertaler oder eine Neandertalerin.

Die Ergebnisse passen zu anderen Studien, denen zufolge Neandertaler und moderne Menschen schon vor rund 45.000 Jahren in Zentraleuropa ihren Lebensraum miteinander teilten. Doch nicht in allen Weltregionen kam es zu einem solchen Austausch, und hinzu kommt eine dritte Gruppe – die Denisova-Menschen –, die mancherorts mitmischte. Auch könnte es schon zuvor Babys von Neandertalern und modernen Menschen gegeben haben, deren Erbgut sich aber nicht in den bisherigen Funden und der heutigen Population erhalten hat.

Trotzdem ausgestorben

Die Forschungsarbeit zeigt außerdem, dass knapp 350 Neandertaler-Gene in uralten Genomen und in heute lebenden Menschen aufgespürt werden können. Etliche dieser Gene könnten modernen Menschen beim Überleben geholfen haben, als sie den afrikanischen Kontinent verließen und neuen Umwelteinflüssen standhalten mussten, vermutet das Team. Diese Gene wirken sich vor allem auf Immunsystem, Stoffwechsel und die Pigmentierung der Haut aus. Hellere Haut hilft, um selbst in dunklen Jahreszeiten mehr Vitamin D zu produzieren. Freilich verbrachte man in europäischen Jäger-Sammler-Gesellschaften wohl viel Zeit an der Sonne, und so ist es nicht ganz verwunderlich, dass etwa die Hautfarbe des Eismanns Ötzi dunkler war als lange angenommen.

Mysteriös bleibt, warum die Neandertaler vor etwa 40.000 Jahren, am Ende dieser sexuellen Interaktionsphase, ausgestorben sind – bis auf die genetischen Spuren in ihren Nachfahren. Die meisten Fachleute schätzen heute, dass es sich um keine feindliche Übernahme handelte, sonst hätten die beiden Gruppen vermutlich nicht über einen so langen Zeitraum in den gleichen Regionen auf mehreren Ebenen miteinander verkehrt. Vielleicht nahmen sie einander nicht als grundverschieden wahr, und so gingen die womöglich zahlenmäßig unterlegenen Neandertaler in den Populationen der modernen Menschen auf. (Julia Sica, 24.5.2024)