Nach der überraschenden Ankündigung des Premierministers Rishi Sunak haben die britischen Parteien am Donnerstag den heißen Wahlkampf für den Urnengang am 4. Juli begonnen. Fragen und Antworten zu den Motiven des konservativen Parteichefs und den Aussichten der politischen Kräfte.

Frage: Warum ruft Sunak jetzt zu den Urnen?

Antwort: Über den Wahltermin hatten politisch Interessierte in London seit Jahresbeginn eifrig spekuliert. Stets hatte der erst im Oktober 2022 in der Nachfolge seiner gescheiterten Vorgänger Boris Johnson und Liz Truss ins Amt Gekommene von der "zweiten Jahreshälfte" gesprochen. Damit gemeint sei ein Termin im Oktober oder November, glaubten die meisten Beobachter.

Am Mittwoch sahen sie sich eines Besseren belehrt, als der 44-Jährige vor seinen Amtssitz in der Downing Street trat und im strömenden Regen, aber ohne Schirm, seine Frage an die knapp 68 Millionen Briten formulierte: In "zunehmend unsicheren Zeiten" müssten sie wählen zwischen seinen "kühnen Plänen", für deren Verwirklichung er auch vor "schwierigen Entscheidungen" nicht zurückschrecke, und dem "planlosen" Labour-Oppositionsführer Keir Starmer.

Minutenlang war der Regierungschef der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt dabei kaum zu verstehen, weil ein Protestierer lautstark die alte Labour-Hymne vom Wahlsieg 1997 "Things Can Only Get Better" ("Es kann nur besser werden") abspielte. Prompt fassten die Wortspiel-verliebten Londoner Medien am Donnerstag Sunaks Aussichten mit dem Satz "Things Can Only Get Wetter" ("Es kann nur nässer werden") zusammen.

Labour-Chef Sir Keir Starmer hofft, dass die guten Umfragen für seine Partei am 4. Juli durchschlagen werden.
REUTERS/Toby Melville

Tatsächlich ist zwar die Inflation auf annähernd normale 2,3 Prozent zurückgegangen; damit schwindet aber auch die Chance, dass die Zentralbank den vergleichsweise hohen Leitzins senkt. Sollte der Sommer ruhiges Wetter bringen, muss sich die Insel auf Zehntausende von Bootsflüchtlingen im Ärmelkanal gefasst machen. Und im nationalen Gesundheitssystem NHS warten noch immer Millionen von schmerzgeplagten Patienten auf Facharzttermine oder längst notwendige Operationen.

Frage: Wie stehen die Chancen auf Sunaks Wiederwahl?

Antwort: Schlecht. In den jüngsten Umfragen liegen die Tories (23 Prozent) hinter der alten Arbeiterpartei (46 Prozent), was im britischen Mehrheitswahlrecht einen Erdrutschsieg nach sich zöge. "Wir brauchen den Wechsel", gab der Parteivorsitzende Keir Starmer als Parole aus. Der spröde 61-jährige frühere Leiter der englischen Staatsanwaltschaft sorgt zwar beim Wahlvolk nicht für Begeisterung. In den Fokusgruppen der Demoskopen aber heißt es oft: "Schlechter als die Tories kann es Labour auch nicht machen."

Video: Parlamentswahl: Großbritannien wählt am 4. Juli.
AFP

Frage: Was bedeutet die Wahl für die britische Außenpolitik?

Antwort: Wie auf den meisten anderen Politikfeldern hat sich Labour auch in der internationalen Politik zurückgehalten und eine moderate Form von Kontinuität in Aussicht gestellt. Das gilt auch für die beiderseits gewünschte pragmatische Annäherung an die EU, an deren Ende bestenfalls Großbritanniens Wiedereintritt in die Zollunion stehen könnte. Der als Außenminister vorgesehene Labour-Mann David Lammy suchte in den vergangenen Wochen ausdrücklich das Gespräch mit Donald Trumps Republikanern; über gute Verbindungen zu den US-Demokraten verfügt die alte Arbeiterpartei traditionell ohnehin.

Mit dem Termin des Urnengangs hat Sunak seinem mutmaßlichen Nachfolger Starmer außenpolitisch einen großen Gefallen getan: In der zweiten Juli-Woche wird der britische Premierminister am Nato-Gipfel in Washington teilnehmen; am 18. Juli spielt er den Gastgeber bei der Zusammenkunft der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Der 2022 vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron initiierte Klub von 47 EU-Staaten und deren Anrainern fand zuletzt bei Staats- und Regierungschefs wenig Anklang. Zur ersten Kontaktaufnahme mit einem neuen Mann in der Downing Street kämen sie vielleicht doch ins Schloss Blenheim bei Oxford – für Starmer eine wertvolle Gelegenheit, seine außenpolitische Unerfahrenheit auszugleichen.

Frage: Wie ist es um die kleineren landesweiten Parteien bestellt?

Antwort: Traditionell profitieren die beiden großen Parteien vom Mehrheitswahlrecht: Die Briten haben das Gefühl, sie müssten über den künftigen Regierungschef mitbestimmen, egal, ob sie unbedingt Parteianhänger sind oder nicht. Freilich gibt es vielerorts auch taktische Überlegungen. In Wahlkreisen, in denen die Arbeiterpartei traditionell ohnehin keine Chance hat, leihen potenzielle Labour-Wähler einer kleineren Partei ihre Stimme. Das sorgt für Optimismus sowohl bei Liberaldemokraten als auch bei den Grünen.

Ed Davey, Chef der Liberaldemokraten, darf hoffen, ebenfalls von der Schwäche der Tories zu profitieren.
AP/Andrew Matthews

Der einstige liberale Koalitionspartner der Konservativen (2010–15) will den Tories vor allem im Speckgürtel um London sowie im englischen Westen rund ein Dutzend Mandate abjagen. Bei den Grünen zieht sich zwar die bisher einzige Mandatsträgerin und Galionsfigur Caroline Lucas zurück; Strateginnen wie Baronin Natalie Bennett geben ihrer Partei aber in vier Wahlkreisen gute Chancen.

Nigel Farage liegt mit seiner Partei Reform UK zwar in Umfragen bei zwölf Prozent, will aber persönlich doch nicht antreten.
REUTERS/Toby Melville

Mit gewohntem Schwung kaschierte Nationalpopulist Nigel Farage sein erneutes Kneifen vor einer Kandidatur: Sein Wahlvehikel Reform UK werde auch ohne ihn zur "Vernichtung der Konservativen, dieses Haufens von Scharlatanen", beitragen. Tatsächlich erzielt die Rechts-außen-Partei in Umfragen regelmäßig zweistellige Ergebnisse, die vor allem zu Lasten der Tories gehen. Allerdings könnte Sunaks Überraschungscoup dem Reformvorsitzenden Richard Tice das gleiche Problem bescheren, das ihn schon vor den englischen Kommunalwahlen zu Monatsbeginn quälte: Da machten Reformkandidaten reihenweise durch rassistische und fremdenfeindliche Parolen von sich reden. (Sebastian Borger aus London, 23.5.2024)