Vor hundert Jahren hat ein gescheiterter Staatsumstürzler, Bierkellerredner und Chef einer politischen Splittergruppe begonnen, ein Buch zu schreiben, das er "Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit" nennen wollte. Der inhaftierte Immigrant hat sich später für den zugkräftigeren Titel Mein Kampf entschieden. Das hölzern geschriebene Machwerk wurde zum Megaseller. Die Folgen sind bekannt und dürfen sich nicht wiederholen.

Eine unübersichtlich gewordene Welt führt zu einem Rückzug in kleine Blasen, die noch ein festes Koordinatensystem für Gut und Böse versprechen.
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Hundert Jahre später befinden wir uns, auch wenn es übertrieben klingt, wieder auf dem Weg in eine unfreie Gesellschaft. Sehenden Auges steuern wir darauf zu, und niemand unternimmt etwas, um nicht in zehn Jahren eine unliebsame Wiederholung der Geschichte zu erleben.

Unlängst hat man mich gefragt, warum die Kulturschaffenden gerade so ruhig sind.

Österreich ist ein schönes Land – Sicherheit, Schmäh und große Künstler. Leute wie Qualtinger oder Bernhard, die das Einfache derart persifliert haben, dass daraus Botschaften geworden sind. Solitäre, eigenbrötlerische, manchmal radikale Standpunkte, die dem Land eine kulturelle Vielfalt und Bedeutung verliehen haben.

Daneben gibt es Schunkelmusik, unsinnliche Konzeptkunst oder Bestseller von TV-Gfriesern. Trotzdem ist Österreich kulturell hochentwickelt. Selbst in der ruralsten Einschicht ist von fünf Scheunen eine ein Veranstaltungs- oder Ausstellungsraum. Aber warum sind die Kulturschaffenden gerade so leise?

Gefühl der Ratlosigkeit

Schimpftiraden auf die Rechten, die zwar notwendig sind und eine gewisse Nestwärme des Widerständigen vermitteln, fühlen sich nach fünfundzwanzig Jahren abgeschmackt an, und alle anderen Themen der Zeit sind hochkomplex und potenzielle Shitstormauslöser. Was bleibt, ist ein diffuses Gefühl der Rat- und Orientierungslosigkeit. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Die Grünen sind plötzlich Kriegstreiber und sympathisieren mit Israel, während die Rechten nun für Frieden stehen und sich mit Babuschka, Wodka und Palästinenserschal zeigen. Sind die verrückt? Verkehrte Welt? Jedenfalls extrem emotional und verwirrend.

Wer kennt sich da noch aus? Wie soll die Kunst reagieren? Kunst kann weder Kriege beenden noch das Klima retten, aber sie fügt der Welt etwas hinzu, das es sonst nicht gäbe. Sie stärkt, regt zum Nachdenken an, bildet ein notwendiges Gegengewicht zur omnipräsenten Leistungseffizienz. Aber ist sie die Rettung einer horriblen Spezies?

Ich war gerade in Nordgrönland und habe eine Lebensweisheit der Inuit mitgenommen: Man darf am Lauf der Welt teilhaben, ihn aber nicht verändern.

Unwürdige Verhältnisse

Das Gegenteil wird praktiziert. Der Mensch ist über sich selbst hinausgewachsen, verändert und zerstört, wie es ihm grade passt. Es gäbe die Möglichkeit, allen Bildung, Wohlstand und Sicherheit zu bieten, stattdessen verhungern welche, sterben im Krieg, leben in unwürdigen Verhältnissen.

Kapitalismus führt zu einer Umverteilung des Geldes in die falsche Richtung. Ein spanischer Film namens Der Schacht findet eine schöne Metaphorik auf das Wesen der Humanoiden. In hundert Stockwerken leben jeweils zwei Personen. Oben kommt täglich ein reich gedeckter Tisch mit den Lieblingsspeisen aller Schachtbewohner an, der nach ein paar Minuten in das darunterliegende Stockwerk fährt, wo er kurz verweilt, um dann ins nächste Stockwerk hinabzusinken, und so weiter, bis er ganz unten angekommen ist. Theoretisch sollten alle satt werden. Tatsächlich finden bereits die Leute in den mittleren Etagen nur noch besudelte Reste. Für die Untersten bleibt nichts. So funktioniert, steht zu befürchten, unsere Gesellschaft. Jeder greift sich, was er kriegen kann, und denen darunter wird boshaft in die Suppe gepinkelt.

Ich liebe die Natur, und ich liebe die Menschen, aber die Natur der Menschen macht mir Angst. Dabei haben wir in der sogenannten ersten Welt humanistische, aufgeklärte Demokratien. Doch die sind, und das ist kein Alarmismus, in Gefahr. Immer öfter begegnet einem der Satz: Das darf man nicht mehr sagen, zumindest nicht öffentlich. Wie ist die Gegenwart? Orientierungslos, voller von jedem Inhalt gelöster Emotion. Jeder wähnt sich pausenlos im Recht.

Infragegestellte Werte

Kritik an Israel wird mit Antisemitismus gleichgesetzt, wer im Ukrainekrieg die russische Seite verstehen will, ist ein Putin-Troll, und wenn man die Folgen der Migration anspricht, gilt man ungeschaut als Rechtsradikaler. Werte, die lange als unumstößlich galten, sind infrage gestellt. Auch als Pazifist muss man den Verteidigungskrieg der Ukraine unterstützen. Ehemals positiv besetzte Wörter wie Querdenker, Friede oder Identität sind übelst beleumundet. Viele Menschen wissen nicht, wie sie Minderheiten benennen sollen, ohne als Rassist zu gelten. In Grönland ist das Wort Eskimo zum Beispiel kein Zeichen für koloniale Ignoranz, während in Kanada dasselbe Wort zu Rausschmissen an Schulen oder Unis führt.

Das Sprechen über die Welt ist kompliziert geworden. Wenn man die Schönheit der Natur lobt, ist sofort jemand da, der lautstark darauf hinweist, dass wir sie gerade zerstören. Die Kraft der diversen Frühjahrsgrüns wird einem verleidet durch das Wissen um Hitzewellen, Flutkatastrophen, Gletscherschmelzen.

Wenn man also von Kulturschaffenden gerade wenig hört, dann liegt das daran, dass sie mundtot gemacht worden sind. Die sozialen Medien haben bewirkt, dass nicht mehr nur eine Meinung abgelehnt wird, sondern gleich die ganze sie verkündende Person samt ihrem Werk – Sippenhaftung 2.0. Politische Korrektheit und mögliche Shitstorms, gecancelte Auftritte und Rauswürfe bewirken eine Selbstzensur, die jedes öffentlich diskutierte assoziative Herantasten an ein Thema blockiert. Aber genau das machen Literatur und Kunst. Kein rechthaberisches Verkünden von Wahrheiten, sondern versuchsweises Verstehen, indem die komplexe Welt auf das Private heruntergebrochen wird.

Lagerdenken statt Parteien

Was früher ein Standesbewusstsein oder eine klassische Parteienzughörigkeit gewesen, ist einem Lagerdenken gewichen, das je nach Anlassfall für oder gegen Israel, Ukraine, Corona, Gendern, Klimakleber oder was auch immer mit Totschlagargumenten reagiert. Das bewirkt Orientierungslosigkeit, und die hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Orientierungslos war man vor dem Dreißigjährigen Krieg, nach der Französischen Revolution, in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als ein arbeitsscheuer Mann, gescheiterter Künstler und in der Wolle gefärbter Rassist begann, sein Buch zu schreiben. Bald steckten ihm Großindustrielle Unsummen, damit seine Schlägertrupps gegen Linke vorgehen konnten.

Wo führt das diesmal hin? Geschichtliche Entwicklungen erzeugen Gegenbewegungen. Man kann die Spanische Inquisition als Reaktion auf die Wissenschaft verstehen. Ein paar Jahrhunderte später kam es zur Massenverelendung durch die Industrialisierung. Die Philosophie fokussierte auf das Individuum. Karl Marx definierte den Menschen über die Arbeit, sein Schwiegersohn schrieb ein Lob der Faulheit. Mit der Syphilis kam eine Verhüllmode, der jeder entblößte Körperteil anstößig war. Zur selben Zeit zog die Psychoanalyse Menschen bis auf ihr Innerstes aus. Nie gab es so viele Alkoholiker wie während der Prohibition. Mit der Entwicklung atomarer Waffen kam die Friedensbewegung. Auf die spießigen Fünfzigerjahre folgten Hippies, die wieder vom Punk abgelöst wurden – und so weiter.

Aktion und Reaktion

Auch wenn das alles sehr verkürzt ist, lässt sich Geschichte als Aktion und Reaktion begreifen. Hinzu kommt ein Kampf der Generationen, macht die Jugend justament immer das, was die Erwachsenen am meisten ärgert.

Die Gegenwart ist herausfordernd. Selbst Leute, deren Intellekt wenig Einsparungspotenzial besitzt, finden im Internet Beweise für die krudesten Theorien. Als jemand, der das Groteske mag, finde ich es amüsant, wenn wer an die Hohlwelttheorie glaubt, an schlafende Aliens in Höhlen oder eine Verschwörung der Ameisen, aber aus Staatsbürgersicht ist das bedenklich. Gerade noch waren in Österreich Friede und Neutralität unumstößliche Werte, schon werden sie als unzeitgemäß postuliert. Bald wird man Gewaltenteilung, Menschenrechte und Demokratie hinterfragen. Orientierungslosigkeit! In dem Wort steckt der Orient, der uns verlorengegangen ist – die Ausrichtung, der Glaube.

Seit Corona wissen wir, was alles möglich ist. Ein indischstämmiger britischer Regierungschef lässt Asylsuchende, ganz egal, woher sie kommen, nach Ruanda abschieben, Beschwerden werden per Gesetz von vornherein für ungültig erklärt, Menschenrechte einfach abgeschafft. Und das geschieht überall, ständig und unwidersprochen.

Blasen und Parallelgesellschaften

Orientierungslosigkeit führt zu einem Rückzug in kleine Blasen oder Parallelgesellschaften, die noch ein festes Koordinatensystem für Gut und Böse bieten. Die einen wollen ein Kalifat, die Nächsten ein Leben ohne Strom oder die wortwörtliche Auslegung eines heiligen Buches. Leugner des Klimawandels sagen, solange die Schafe nicht nackt sind, ist es kein Sturm, und Lobbyisten erwirken, dass wir Mikroplastik essen oder Rostschutzmittel trinken. Die Nächsten wollen Remigration aller Eingebürgerten oder gleich den Staat abschaffen.

Das alles führt zu einer Entpolitisierung, die Menschen nur noch an Fußball, Thermomix, iPhone, Tupperware oder Taylor Swift glauben lässt. Angesichts der Komplexität fühlt man sich überfordert, ohnmächtig. Standortbestimmung Abgrund. Klimaflüchtlinge, Inflation, knapp werdende Ressourcen, eine prognostizierte demoskopische Entwicklung, bei der in zwanzig Jahren ein Viertel der Bevölkerung Muslime sind, ein stetig wachsendes, von den unsozialen Medien geschürtes Hass- und Gewaltpotenzial. Beste Voraussetzungen, um in einen neuen Faschismus zu geraten. Er wird anders aussehen, aber genauso intolerant sein und mit allen Freiheiten aufräumen wie der vor hundert Jahren.

Was kann die Kunst dagegen ausrichten? Wenig bis nichts? Sie kann zumindest die Schönheit des Lebens feiern, der materiellen Welt eine sinnliche gegenüberstellen und dem Denken in Legislaturperioden große Zukunftsvisionen. Sie muss an die Vernunft appellieren, vermitteln, dass alles beseelt ist, den Respekt vor der Natur stärken, oder propagieren, was die Grönländer raten: Nimm dir nur, so viel du brauchst, teile es, sei dankbar. Vielleicht wäre das ein Grundrezept für die Zukunft? Nimm dir nur, so viel du brauchst, teile es, sei dankbar, weil irgendwo sitzt bestimmt schon wieder einer, der an seinem Kampf schreibt. Aber diesmal darf das kein Erfolg werden. (Franzobel, 26.5.2024)