Meine Heimat ist ein fremder Ort, den ich gut kenne", so wunderbar treffend beschreibt die Historikerin Marion Wisinger ihr "Goisern". Und so lautet auch ihr Porträt der Salzkammergutgemeinde, in der die in Wien lebende Autorin viel Zeit, vor allem noch bei ihren Großeltern, verbracht hat. Provokation, aber auch Liebesgeständnis nennt sie ihren Versuch, die Geschichte dieses Tals aufzuschreiben. Es ist ein durchaus gelungener Gegenentwurf zur klassischen Heimatforschung, durchaus mit Mut zu Lücken, auf die aber Wisinger, die nach Monaten dann doch Zugang zum Goiserer Gemeindearchiv bekommt, selbst gestoßen wird. Die wohlgeordneten Aktenbestände enden ausgerechnet im Herbst 1938. Ein Wunder? Eher nicht.

Das evangelische Goisern war viel Habsburg-kritischer als Bad Ischl.
IMAGO/Volker Preußer

Doch von vorne: Wisingers Goisern fängt die Ortsgeschichte zwischen 1900 und 1950 ein. Fünfzig Jahre, die dem Tal, das "zwei Stunden lang und nahezu eine Stunde breit" ist, wie ein Gemeindevorsteher noch im Jahr 1909 geschrieben hat, jede Menge an Veränderungen und auch zwei Weltkriege beschert hat. Für Goisern und die Goiserer ist allein die Frage, was denn das Salzkammergut überhaupt sei, schon heikel, "nämlich nicht viel mehr als ein touristischer Begriff des 19. Jahrhunderts". Wir lesen und lernen vieles, was einem auch als Salzkammergutkennerin gar nicht so bewusst war: Goisern war ewig nur über Wasserwege erreichbar, lange bestand ein Reiseverbot für die dortige Bevölkerung, im Gegensatz zur Kurstadt Bad Ischl blieb man im evangelischen Goisern Habsburg-kritisch, das Bad vor Goisern bekam der Ort erst 1955. Wisinger schreibt sich dabei an den lokalen Persönlichkeiten entlang und verwebt sehr erhellend die Orts- mit der eigenen (Bäcker-)Familiengeschichte. Wisingers Großvater strandet 1925 im indonesischen Surabaya und betreibt dort eine Zeitlang eine Wiener Bäckerei.

Sie erinnert in gut zu lesenden, kurzen Kapiteln die wichtigen Goisern-Chronisten wie den Ortsphilosophen Konrad Deubler (dessen Adoptivenkelin später der Bäckerfamilie Wisinger zu Wohlstand verhilft) oder den Gemeindesekretär Franz Laimer, die keinen Zweifel daran ließen, dass die zweifelsohne wunderschöne Naturlandschaft, die zwar fremdenverkehrstechnisch sowohl den winterlichen Skisport als auch die Sommerfrische miterfunden hat, für ihre Bewohner und Bewohnerinnen immerzu ein hartes Leben bedeutete, das von Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und Armut geprägt war. "Der Krieg kam nie nach Goisern, doch Goisern war mitten im Krieg", schreibt Wisinger über den Ersten Weltkrieg. Der Satz behält aber auch für den Zweiten seine Richtigkeit. Als Historikerin vermag sie die politischen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten jener Zeiten perfekt zu analysieren, zieht Bilanz, beleuchtet Nachkriegstraumata, beschreibt den Zulauf zu den Roten nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch das zunehmende großdeutsche Stammtischgerede in den Wirtshäusern oder die immer lauter werdende antisemitische Hetze gegen Sommergäste.

Judenfreie Sommerfrische

Die Forderung nach judenfreier Sommerfrische im Salzkammergut gab es also schon in den 1920er-Jahren, und beim Lesen ihrer Chronik macht sich Unbehagen breit ob der Parallelen zum Hier und Heute. "Der Umbau der politischen Verhältnisse im Ort vollzog sich schnell", schreibt Wisinger und zeichnet die Geschichte von den zunächst illegalen Nazis über den Bürgerkrieg 1934 bis Anschluss 1938 nach. Bei ihren Recherchen in den Archiven und in Gesprächen vor Ort sei vieles zu erfahren gewesen, wer "ein unverbesserlicher Nazi" war, aber auch wer "nichts getan" hat, eine genaue Aktenlage bleibt aber bruchstückhaft. Auch das ist kein Alleinstellungsmerkmal für Goisern. Der jüdische Besitzer des Parksanatoriums Anselm Horowitz wurde enteignet, ihm gelang die Flucht nach Großbritannien, wo er früh verstarb. Die osteuropäische Zwangsarbeiterin Hedwig Kuschel begeht Selbstmord. 1950 kommt in Goisern Jörg Haider auf die Welt, als Sohn ewiggestriger Eltern, die sich 1945 noch das Leben nehmen wollten, wie Haider selbst einmal in einem Interview erzählte. Wisinger führt uns alle diese teils dunklen Fäden zusammen und zeichnet ein Porträt eines Ortes, das durchaus exemplarisch für viele Gemeinden Österreichs steht.

Leseempfehlung! (Mia Eidlhuber, 25.5.2024)

Marion Wisinger, "Goisern". € 26,– / 206 Seiten. Kremayr & Scheriau, Wien 2024
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