Schauspielerin Sandra Hüller gastiert lesender Weise im Wiener Konzerthaus
Chris Pizzello/Invision/AP

Man könnte Musik und Literatur als zwei Künste beschreiben, die ein geschwisterliches Verhältnis zueinander pflegen, finden sich bei beiden doch sowohl gemeinschaftliche als auch gegensätzliche Wesenszüge. Was die Unterschiede anbelangt: Für Sphären jenseits des mit Worten Benennbaren, so sagt man, sei die Musik zuständig. Literatur ist zudem immer einer konkreten Sprache verhaftet, Musik kann international verstanden werden.

In der Oper hingegen verbinden sich Musik und Literatur wie siamesische Zwillinge. Doch wer gibt hier eigentlich die Richtung vor? Wie gut, dass sich das Publikum im Wiener Konzerthaus weder für das eine noch für das andere entscheiden muss. In mehreren Abonnementzyklen werden Musik und Literatur zusammengeführt, und das von hochkarätigen Autoren und Autorinnen, Akteuren und Musikschaffenden.

Von Christie bis Shakespeare

Die Liste der Vortragenden im Zyklus Literatur im Konzerthaus etwa liest sich wie ein Auszug aus dem Who’s who der Schauspielkunst! Da wären die großartige Sandra Hüller, Iffland-Ring-Träger Jens Harzer, Ex-Jedermann Lars Eidinger, Brigitte Hobmeier, Caroline Peters, Martin Wuttke, Markus Meyer und, und, und … Musikalisch assistiert unter anderem von der Sopranistin Anna Prohaska und Jungspund Oscar Haag, erwecken die Ausnahmeartisten im Mozart-Saal Texte von Agatha Christie, William Shakespeare, Virginie Despentes, Astrid Lindgren und Jon Fosse an fünf Abenden zu sprachlichem Leben. Bei so viel künstlerischer Exzellenz fehlen einem fast die Worte.

Die Reihe Originalton beschäftigt sich nicht nur mit lebender Wortkünstlerschaft; nein, diese kann dort sogar leibhaftig dabei erlebt werden, wie sie aus eigenen Werken liest. So trägt der kompromisslose Zeitdiagnostiker Maxim Biller Auszüge aus seinem Roman Mama Odessa vor, musikalisch wird er umrahmt von Felix Kramer und Max Wintersperger (15. 10.).Navid Kermani liest wiederum aus seinem neuen Roman Das Alphabet bis S, einem Buch über Bücher, pianistisch und perkussiv begleitet von Pi-hsien Chen und Manos Tsangaris (9. 11.).

Reichtum und seine Auswirkungen

Der große Reisende Ilija Trojanow lädt in seinem utopischen Roman Tausend und ein Morgen zu Zeitreisen ein, von Sava Stoianov und Dietmar Wiesner klingend begleitet (18. 12.). Die neunteilige Reihe Musik und Dichtung zu Mittag umkreist wiederum in der kommenden Saison das Thema Wa(h)re Gefühle, und zwar immer mittwochmittags um halb eins. Erwin Steinhauer liest eröffnend aus Émile Zolas großem Finanzroman Das Geld (16. 10.), Burgschauspieler Markus Meyer berichtet in Mark Twains Erzählung Die 1.000.000 Pfundnote von überraschendem Reichtum und ihren Auswirkungen. (27. 11.)

Die fatalen Folgen der Spielsucht beleuchtet Arthur Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen, vorgetragen von Dörte Lyssewski (22. 10.). Ein schillernder Klassiker wie F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby darf in dieser Reihe natürlich nicht fehlen; Tilman Tuppy liest daraus vor (19. 2.).

Als Kontrastprogramm dazu widmet sich Ödön von Horváth in seinem ersten Roman Der ewige Spießer ebendieser Spezies, weiß Regina Fritsch (12. 3.). Kollege Michael Dangl erzählt Joseph Roths Legende vom heiligen Trinker (9. 4.). Auszüge aus dem packenden Debütroman Martin Walsers, Ehen in Philippsburg, präsentiert schließlich Jörg Ratjen (23. 4.). Aufregend: Bibiana Beglau mit Annie Ernaux’ Erzählung Der Platz (14. 5.). Und last, but not least liest Dorothee Hartinger aus Kathrin Rögglas New-Economy-Roman Wir schlafen nicht (11. 6.). Und die Musik? Wird hier unter anderem vom jungen Geigentalent Maria Ioudenitch oder den Pianisten Herbert Schuch, Anton Gerzenberg, Mitra Kotte, Saskia Giorgini und Kiron Atom Tellian beigesteuert.

Literaturpflege

Aja: Wer mittags nicht kann, dem offeriert das Konzerthaus erstmals für fünf der neun musikalisch begleiteten Lesungen auch Abendtermine. Steinhauer, Lyssewski, Tuppy, Ratjen und Beglau sind so nett und widmen sich im Zyklus Musik und Dichtung am Abend erneut der Literaturpflege.

Wem die Warterei bis zum kommenden Herbst zu lang ist, der kann schon im Juni bei der Lesung von Herta Müller einer Literaturnobelpreisträgerin lauschen. Müller liest aus ihrem neuen Werk Der Beamte sagte (10. 6.) und wird dabei vom Duo Henrike Brüggen und Marie Radare-Plank assistiert. Schließlich: Ohne Musik geht hier die Chose nicht! (Stefan Ender)

Reise zum Solarplexus der Moderne

Patricia Kopatchinskaja und die Wiener Symphoniker geben im Konzerthaus drei besondere Konzerte.
Wiener Konzerthaus

Natürlich kennen Sie diese heitre Frau, die Ihnen hier so witzig geschminkt und hutbekränzt auf historisch bedeutsame Kunst verweisend zuzwinkert. Sie ist jene Geigenvirtuosin, die im Wiener Konzerthaus regelmäßig für intensive Momente sorgt, wenn sie das Violinrepertoire mit der ihr eigenen Intensität und Ausdruckssubtilität zelebriert.

Patricia Kopatchinskaja wird diesmal aber etwas ganz Spezielles künstlerisch verarbeiten: Mit den Mitgliedern der Wiener Symphoniker und Joonas Ahonen am Klavier präsentiert sie Arnold Schönbergs auf Gedichten von Albert Giraud basierenden Pierrot lunaire op. 21 (1912). Das Werk wird im Wechsel mit anderen Stücken dargeboten (16. 7.).

Dazu meint die aus einer moldauischen Musikerfamilie stammende Österreicherin: "Ich glaube, es lohnt sich, dieses Stück so oft wie möglich zu hören, zu sprechen und zu spielen. Das ist ein lebenserfüllendes Stück, ein träumendes Stück", so die Geigerin über Schönbergs Pierrot lunaire, ein subtiles Melodram, von dem der russische Schönberg-Kollege Igor Strawinski einst sehr griffig meinte, es sei das Werk der "Solarplexus der Moderne".

Doppelrolle

Mit ihrer Version des Klassikers hat Patricia Kopatchinskaja u. a. bereits auch in Deutschland und in den USA Erfolge gefeiert. Also in der nicht alltäglichen Doppelrolle als Geigerin und Sprecherin.

Zusammen mit den Wiener Symphonikern wird Kopatchinskaja aber auch Arnold Schönbergs Konzert für Violine und Orchester op. 36 (1934–1936) spielen (16. und 17. 7.). Sie ist mit dem Werk seit langem vertraut, hat sie es schon vor Jahren auch bei den Salzburger Festspiele gespielt. Dabei war zu hören, dass sie Schönbergs im US-Exil geschriebenes aberwitzig schweres Violinkonzert, das Geiger Jascha Heifetz für unspielbar hielt, fulminant beherrscht.

Kopatchinskaja, sie ist heuer übrigens Porträtkünstlerin des Wiener Konzerthauses, wird ihre Gedanken mit dem Dirigenten Aziz Shokhakimov teilen. Er ist Musikdirektor des Orchestre Philharmonique de Strasbourg und künstlerischer Leiter des Tekfen Philharmonic Orchestra und feiert nun sein Konzerthaus-Debüt. Neben Schönberg dirigiert er auch Prokofjew, es geht um die doppelte Suitenverarbeitung von Romeo und Julia, ebenfalls also um einen Klassiker. (Ljubisa Tošic, 25.5.2024)