Von Moorlandschaften wie dieser im Waldviertel soll es wieder mehr geben, wenn es nach einer geplanten EU-Verordnung geht. Gefährdet das unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln?
Axel Schmidt

Das EU-Renaturierungsgesetz sorgt für innenpolitische Aufregung – und für einen sich zuspitzenden Konflikt zwischen den Koalitionspartnern ÖVP und Grüne. Ein Treffen von Klimaschutz- und Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) mit den Naturschutzreferenten der Bundesländer am Freitag ging ohne klares Ergebnis zu Ende. Aber was regelt die EU-Verordnung mit dem sperrigen Namen eigentlich genau? Warum sorgt sie für so große Konflikte? Und ist unsere Lebensmittelversorgung sicher? Ein Überblick.

Frage: Was ist das EU-Renaturierungsgesetz?

Antwort: Eine EU-Verordnung, die über mehrere Jahre ausgearbeitet wurde. Sie hat wie alle Verordnungen der Union direkte Rechtswirksamkeit in allen Mitgliedsländern, sobald sie beschlossen ist. Im Kern geht es bei dem Gesetz um die naturnahe Wiederherstellung von Wäldern, Flussläufen, Mooren oder Ökosystemen im Meer. Diese Maßnahmen sollen dem Klima- und Umweltschutz dienen.

Frage: Warum ist das Gesetz so umstritten?

Antwort: Weil es Interessenkonflikte mit sich bringt. Wenn derzeit anders verwendete Flächen renaturiert werden, fällt natürlich auch die bisherige Nutzung weg. Das kann zum Beispiel versiegelte Flächen wie asphaltierte Flussufer betreffen. Vor allem aber geht es um Ackerland und andere landwirtschaftlich genutzte Flächen. Genau hier liegt auch eines der Hauptkonfliktfelder. So fürchten manche Landwirte um Teile ihrer Nutzfläche. Denn bisher ist nicht klar, welche Flächen genau in Österreich betroffen sein könnten. Im Grunde geht es bei Renaturierungsprozessen um eine Abwägung zwischen Klima- und Umweltschutz einerseits und ökonomischen Faktoren oder auch der Nahrungsmittelversorgung über landwirtschaftliche Flächen andererseits.

Frage: Wie realistisch ist die Bedrohung der landwirtschaftlichen Produktion?

Antwort: Das Renaturierungsgesetz ist ein Herzstück des Green Deal. Es geht darum, die Landnutzung klimafreundlicher zu gestalten. Damit würden Flächen der landwirtschaftlichen Produktion entzogen. Das hätte tatsächlich auch Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, sagt Wifo-Ökonom Franz Sinabell. Es sei wissenschaftlicher Konsens, dass der Green Deal umsetzbar sei. Aber tatsächlich würden in Europa weniger Lebensmittel produziert. Auf lange Sicht sei der Weg unumgänglich, argumentierte Biodiversitätsforscher Franz Essl jüngst im ORF-Interview. Denn eine intakte Natur sei Voraussetzung für eine ertragreiche Landwirtschaft.

Frage: Sind unsere Lebensmittel mit dem Gesetz sicher?

Antwort: Das gewiss. Aber eine Verknappung der Flächen dürfte steigende Preise nach sich ziehen. Und es kommt auch darauf an, wie wir uns ernähren wollen. Sehr viele Flächen könnte man mobilisieren, indem man weniger Fleisch isst, sagt Wifo-Forscher Sinabell. Es ist auch das, was uns Ernährungsfachleute nahelegen.

Frage: Wer ist in Österreich für das Renaturierungsgesetz, wer dagegen?

Antwort: Umweltministerin Gewessler will dem Renaturierungsgesetz zustimmen. Das Gesetz sei "keine Gefahr, sondern unsere Lebensversicherung", denn eine intakte Natur sei "Grundlage unseres menschlichen Lebens", sagte sie am Freitag im Ö1-Morgenjournal. Die ÖVP von Kanzler Karl Nehammer und Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig abwärts ist dagegen. Nehammer bezeichnete die Verordnung als "dramatisches Beispiel für den Überregulierungswahn in Brüssel". Totschnig sprach von einer "Überbürokratisierung". Auch die Bundesländer waren bis vor kurzem geschlossen gegen das Gesetz und haben sich in einer sogenannten "einheitlichen Länderstellungnahme" dagegen ausgesprochen. Nach einer Entschärfung der EU-Verordnung in Hinblick auf die Ernährungssicherheit schwenkten die von der SPÖ regierten Länder Wien und Kärnten aber um.

ÖVP und Grüne sind sich uneins, was die Zustimmung zu EU-weiten Gesetz betrifft. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sieht einen "Überregulierungswahn" der EU, Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) bezeichnet das Gesetz als "unsere Lebensversicherung".
REUTERS

Frage: Warum hat Österreich bisher auf EU-Ebene nicht zugestimmt?

Antwort: Bereits im März stand das Gesetz beim Rat der EU-Umweltminister auf der Agenda, wurde dann aber von der Tagesordnung genommen, da der Widerstand zu groß war – eben auch durch Österreich. Die österreichische Vertreterin im Rat, Umweltministerin Gewessler, war zwar seit jeher eine Befürworterin des Gesetzes, hätte im März aber trotzdem dagegen votiert, wenn es zu einer Abstimmung gekommen wäre.

Frage: Warum?

Antwort: Weil in diesem Bereich das Abstimmungsverhalten der Ministerin laut österreichischer Verfassung an die Position der Bundesländer geknüpft ist. Der Naturschutz liegt nämlich in der Kompetenz der Bundesländer, so sieht es der hiesige Föderalismus vor. Das heißt: Sofern alle Bundesländer auf einer Linie sind, darf sich die Bundesministerin nicht darüber hinwegsetzen.

Frage: Warum bröckelt die Linie der Bundesländer neuerdings?

Antwort: Wiens Bürgermeister Michael Ludwig und Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (beide SPÖ) haben vergangene Woche signalisiert, dass sie doch für einen Beschluss der Verordnung sind. Ihre Bedenken an der ursprünglichen Version seien durch Änderungen mittlerweile ausgeräumt, erklärten sie. SPÖ-Chef Andreas Babler unterstützt diesen Schwenk ebenso wie der rote EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder. Ludwig schrieb am Donnerstag zudem einen Brief an Gewessler, in dem er die Zustimmung Wiens bekräftigte – wobei er hinzufügte, dass die Finanzierung der Maßnahmen "insbesondere durch den Bund" sichergestellt sein müsse. Die restlichen sieben Bundesländer, inklusive dem SPÖ-regierten Burgenland, beharren auf ihrer Ablehnung.

Frage: Reichen die Bekundungen aus Wien und Kärnten, um das vormals beschlossene Kontra der Länder zu kippen?

Antwort: Im Büro von Wiens Landeshauptmann Ludwig hält die Bekundungen für ausreichend. Das formal notwendige Prozedere, um die bisher geltende "einheitliche Stellungnahme" der Länder aufzuheben, ist allerdings einigermaßen unklar. Der Verfassungsrechtler Peter Bußjäger von der Uni Innsbruck sagte zur APA, es handle sich bei dem Thema um absolutes Neuland: "Wir hatten so einen Fall überhaupt noch nie." Bußjäger erklärt, es sei jedenfalls ein neuer Beschluss durch die Landeshauptleute erforderlich, um den alten Beschluss des einheitlichen Neins außer Kraft zu setzen. Ein physisches Zusammentreffen der Landeschefs im Rahmen einer Landeshauptleutekonferenz sei hierfür nicht zwingend, ein Umlaufbeschluss täte es auch.

Frage: Am Freitag fand am Kärntner Weißensee ein Treffen der Umweltlandesräte bzw. Naturschutzreferenten der Länder statt. Gab es da Schritte in Richtung einer neuen Länderstellungnahme?

Antwort: Offenbar nicht. Die ebenfalls anwesende Umweltministerin Gewessler zeigte sich unmittelbar nach dem Treffen enttäuscht: "Am Ende haben die Länder keine Entscheidung getroffen – weder zum Inhalt noch zum Prozess." Es fehle ihr weiterhin an einer expliziten Klarstellung, ob Wien und Kärnten noch hinter der gemeinsamen Länder-Stellungnahme stehen. Sie sieht sich somit weiterhin an das dort festgeschriebene Nein der Länder gebunden. Auch die Kärntner Landesrätin Sara Schaar räumte ein, dass keine Einigung über das weitere Vorgehen zustande gekommen ist. Allerdings haben Wien und Kärnten jüngst erwirkt, dass die aktuelle Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP, Niederösterreich), neuerliche Beratungen auf Länderebene in Auftrag gegeben hat. Somit könnte eventuell noch ein formaler Weg gefunden werden, mit dem sich die nunmehr gemischte Meinungslage der Länder abbilden lässt.

Frage: Darf Gewessler im EU-Ministerrat für die Verordnung stimmen, sobald die kollektive Ablehnung durch die Länder formal wegfällt?

Antwort: Das ist unter Juristinnen und Juristen umstritten. Der Europarechtler Walter Obwexer sagt, dass die Umweltministerin dafür – gemäß Bundesministeriengesesetz – vorher die Zustimmung anderer Minister bräuchte, die von der EU-Regelung betroffen sind. Das wäre in dem Fall jedenfalls das Landwirtschafts- sowie das Finanzministerium. Da diese Ressorts in der Hand der ÖVP liegen, wäre demnach eine Einigung beider Regierungsparteien notwendig. Eine solche ist aber nicht in Sicht, weil die ÖVP-Verantwortlichen strikt gegen das Gesetz auftreten.

Gewessler meint allerdings, dass sie sich für ihr Abstimmungsverhalten im EU-Ministerrat ohnehin nicht mit den schwarzen Regierungskollegen akkordieren muss. Rückendeckung bekommt sie durch die Rechtsauffassung des Rechtsprofessors Daniel Ennöckl von der Universität für Bodenkultur: Er argumentiert, dass sich etwa Landwirtschaftsminister Totschnig in einer spiegelbildlichen Situation im EU-Ministerrat seinerseits nicht mit Gewessler abgestimmt habe, obwohl ihr Ressort durch die Senkung der Umweltstandards auch betroffen war.

Frage: Steht auf EU-Ebene überhaupt eine Abstimmung über das Renaturierungsgesetz an?

Antwort: In Ratskreisen heißt es, dass das im Moment niemand mit Sicherheit sagen kann. Der nächste EU-Umweltministerrat, in dem Gewessler mitstimmen könnte, findet am 17. Juni statt, eine Woche nach den EU-Wahlen. Ob die aktuelle belgische Ratspräsidentschaft das Thema auf die Tagesordnung setzt, ist offen. Seit der Gesetzesvorschlag mit dem Europäischen Parlament fertiggestellt worden war, war es bereits zweimal auf der Agenda. Mangels Chance auf Mehrheit und Erfolgsaussicht wurde eine Abstimmung aber gar nicht erst versucht und verschoben.

Frage: Könnte die Stimme Österreichs bei einer Abstimmung ausschlaggebend sein?

Antwort: Auch das ist ungewiss. Nötig wäre eine qualifizierte Mehrheit im Rat, Österreich hat nur zwei Prozent Stimmengewicht. Die letzte "grundsätzliche" Ratsabstimmung zur Renaturierung gab es im Juni 2023. Damals war neben Italien, Schweden, der Slowakei und den Niederlanden auch Ungarn dagegen. Belgien, Finnland und Österreich enthielten sich der Stimme. Wie es heute aussähe? Ungewiss, auch weil es inzwischen EU-weit mehrere Regierungswechsel gegeben hat.

Frage: Was wird Vorsitzland Belgien also tun?

Antwort: Das hängt vermutlich vom Ausgang der Europawahlen vom 6. bis 9. Juni ab – und weil gleichzeitig auch nationale Wahlen in Belgien stattfinden, ist danach "nur" eine Übergangsregierung am Ruder. Ein Kompromiss, etwa durch Einbringen neuer Abänderungsvorschläge, ist ausgeschlossen. Denn das EU-Parlament hat den Vorschlag im Februar beschlossen, sich Ende April aufgelöst. Es tagt erst wieder im Juli.

Frage: Warum ist die ÖVP überhaupt gegen das Renaturierungsgesetz?

Antwort: Landwirtschaftsminister Totschnig sieht durch weniger landwirtschaftliche Flächen, die das Gesetz mit sich bringen würde, die Ernährungssicherheit in Österreich potenziell gefährdet. Er argumentiert, dass in Österreich schon ausreichende Gesetze vorhanden seien. Es brauche einen "Naturschutz mit Augenmaß und Sachverstand". Einen taktischen Hintergrund dürfte das strikte Nein auch haben: Im Herbst steht die Nationalratswahl an. Und Landwirtinnen und Landwirte gehören ebenso zur Kernzielgruppe der ÖVP wie Vertreterinnen und Vertreter der Agrarindustrie.

Frage: Ist der Konflikt zwischen ÖVP und Grünen über das Gesetz so groß, dass er die Koalition gefährdet?

Antwort: Als Stimmungsturbo wird sich der Knatsch naturgemäß nicht gerade auswirken. Für einen vollends eskalierenden Streit scheint das Thema jedoch zu sperrig, weil die Folgen des Gesetzes nicht so leicht greifbar sind. Allerdings: Die Bundesregierung steht ohnehin vor dem Ende ihrer regulären Lebensdauer. Im Herbst soll planmäßig die Nationalratswahl über die Bühne gehen. Heißt: Selbst wenn sich die Regierung wegen des Konflikts noch vorzeitig auflösen würde, würde wohl – wie ohnehin angepeilt – im September gewählt. (Martin Tschiderer, Theo Anders, Thomas Mayer, Regina Bruckner, 24.5.2024)