Karim Ahmad Khan lässt sich nicht einschüchtern, so viel ist spätestens seit vergangener Woche klar. Erst am 24. April flatterte dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ein undiplomatischer Brief ins Haus, gezeichnet von zwölf der einflussreichsten republikanischen US-Senatoren. Auf einer A4-Seite machten die zwölf unmissverständlich klar, dass die USA jegliche Unterstützung für Khans Arbeitgeber aufgeben werden, sollten sich die Spekulationen über das Erlassen internationaler Haftbefehle gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und weitere hochrangige Israelis bewahrheiten. "Nehmen Sie Israel ins Visier, und wir nehmen Sie ins Visier", hieß es im Brief unverblümt. Sanktionen und Verbot der Einreise in die USA für Khan sowie seine Mitarbeiterinnen und Mitstreiter wurden in den Raum gestellt. Der Brief schließt mit den Worten: "You have been warned."

Am Montag gab Khan bekannt, dass er und sein Team – beraten unter anderem von Menschenrechtsanwältin Amal Clooney – nach sorgfältiger Recherche hinreichende Anhaltspunkte sehen, um neben drei führenden Hamas-Terroristen auch gegen Netanjahu und Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant internationale Haftbefehle wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzustreben.

Beschimpfungen und Drohungen

Khan hätte den Antrag, über den nun drei IStGH-Richterinnen in der sogenannten Vorverfahrenskammer urteilen, nicht öffentlich machen müssen. Nicht einmal der Haftbefehl selbst müsste öffentlich sein. Dennoch tat er es. In vollem Bewusstsein der Tragweite.

In den Stunden nach Bekanntgabe des Antrags prasselten wüsteste Beschimpfungen auf Khan ein. Netanjahu glaubte im Antrag gegen sich wieder einmal einen Angriff auf eine Glaubensgemeinschaft zu erkennen und nannte den bekennenden Muslim Khan "einen der großen Antisemiten der Moderne". Bündnispartner Netanjahus sprachen von einer "empörenden" Entscheidung, was sie vor allem an einer vermeintlichen Gleichsetzung der Gräueltaten der Hamas mit den mutmaßlichen Verbrechen der israelischen Regierungsspitze festmachten.

Sehr viele juristische Experten wiesen diese Anschuldigung in den Tagen danach jedoch brüsk zurück. Auch Völkerrechtsexperte Ralph Janik betont, dass es sich um "eine Gleichzeitigkeit, aber keine Gleichartigkeit" der Vorwürfe handelt.

Retourkutsche?

Dass Khan das PR-technisch waghalsige Timing dennoch wagte, könnte laut Cuno Tarfusser, italienischer Ex-Richter am Strafgerichtshof und Khan weiterhin in freundschaftlicher Weise verbunden, aber womöglich eine Retourkutsche für den Brief der US-Senatoren sein. So mutmaßt Tarfusser im STANDARD-Gespräch. Khan selbst würde wohl nie von Retourkutsche sprechen – eher von einem Zeichen, dass vor dem Gesetz alle gleich sind und für ihr Handeln im Krieg Rechenschaft ablegen müssen, was auch immer der Kriegsanlass war.

Generell habe sich in den vergangenen Tagen in der Öffentlichkeit weitverbreitete Unwissenheit über das Aufgabenspektrum des Strafgerichtshofs gezeigt, urteilt Janik – ob willentlich oder nicht. Denn Khan und sein Team bewerten nicht die Rolle von Staaten in Kriegen, sondern die Handlungen von Einzelpersonen in Konflikten, die auf dem Territorium jener 124 Staaten geschehen, welche die Rechtsprechung des Strafgerichtshofs akzeptieren. Die USA und Israel gehören nicht dazu, Palästina schon.

Mensch im Mittelpunkt

Das Völkerstrafrecht ist in diesem Sinne individualisiert. Es stellt den Menschen in den Mittelpunkt, in der Rolle des Täters und des Opfers. Das passt zu Khan, der in den wenigen Interviews, die er gibt, vor allem Kinder und marginalisierte Gruppen in den Fokus rückt. Khan, der für seine Recherchen noch heute gerne ins Feld geht, die Furchtbarkeiten mit eigenen Augen sehen will, spricht von "generationellen Traumata": von Verbrechen, so schlimm, dass auch die Kinder und Kindeskinder noch darunter leiden. Als großer Förderer möglichst diverser Gerichtsbarkeit bemüht sich Khan, auch deren Stimmen in seine Teams zu bringen.

Karim Khan im ukrainischen Wyschorod.
REUTERS

Sein Herz für Schwächere sei zu einem gewissen Ausmaß auch auf den Einfluss seiner zweiten Frau, der renommierten malaysischen Menschenrechts- und Strafrechtsanwältin Shyamala Alagendra, zurückzuführen, ist Tarfusser überzeugt.

Khan, 54 Jahre alt, bringt aber auch gerne seine eigene Geschichte ins Spiel: als Kind mit pakistanischem Migrationshintergrund im Vereinigten Königreich; als Anhänger der Ahmadiyya, einer reformistischen Strömung des Islam, die etwa den Jihad verbietet und in zahlreichen Ländern bekämpft wird. Khans erste Frau war die Tochter des vierten Kalifen der Religionsgemeinschaft.

Sieg des Rechts über Gewalt

Womöglich hat Khan Hobbys. Wegbegleiter Tarfusser könnte außer Völkerstrafrecht aber keines benennen: "Der ist das mit Leib und Seele", sagt der Ex-Kollege, der ihn nicht nur für "einen der Präzisesten in der Wortwahl" hält, sondern ihn auch als "absolut korrekte Person" beschreibt.

Denn Einfluss- und Korrumpierversuche habe es immer gegeben. In einem CNN-Interview berichtete Khan jüngst von Druckausübung durch hochrangige Regierungschefs. "Dieses Gericht wurde für Afrika und Schurken wie Putin gegründet", habe einer gesagt. Aber Khan lässt sich eben nicht gern seine Arbeit erklären. Das tut er selbst: Den Strafgerichtshof sieht er als "Vermächtnis der Nürnberger NS-Prozesse", als Merkmal des Sieges des Rechts über die Gewalt. Was manche als pathetisch empfinden, kaufen ihm viele ab. An seiner fachlichen Kompetenz und Besonnenheit wagt anscheinend ohnehin niemand zu rütteln. "Der hat sich das bestimmt nicht leichtgemacht", hieß es dieser Tage immer wieder. Dennoch ritten in sozialen Medien Berufskolleginnen und Rechtsexperten aus, um Khans Überparteilichkeit zu betonen, als diese von der Politik infrage gestellt wurde.

Russischer Haftbefehl gegen Khan

Zu Recht erinnerten auch viele daran, dass Khan erst vor etwas mehr als einem Jahr überschwänglich gelobt wurde, als er einen Haftbefehl ausstellte. Nur ging es damals gegen Russlands Präsident Wladimir Putin. Eine parteiübergreifendes US-Kongressdelegation stattete Khan Ende 2022 einen "historischen" Arbeitsbesuch in Den Haag ab und wollte die Zusammenarbeit vertiefen.

Es sind Diskrepanzen wie diese, welche die Vorwürfe einer westlichen Heuchelei in Sachen Strafverfolgung nähren. Vorwürfe, die Khan mit Taten zu entkräften versucht, wie es scheint. Denn die Message aus den Anträgen zum Haftbefehl ist klar: "Nehmt ihr Zivilisten ins Visier, nehmen wir euch ins Visier", um einmal in der martialischen Sprache der US-Senatoren zu bleiben. Im Visier hat den "Weltstaatsanwalt", wie seine Rolle oft genannt wird, übrigens auch Russland. Dort erwiderte man Khans Haftbefehl gegen Wladimir Putin mit einem Haftbefehl gegen Khan. Russlands Ex-Präsident Dimitri Medwedew wollte die Sache damals gleich mit Raketen auf den Strafgerichtshof lösen.

Kontroversen

Als Hauptmotivation für seinen Karrierepfad nennt Khan Berichte über Gräueltaten im Jugoslawienkrieg. Nach dem Jus-Studium am renommierten King’s College London soll er beinahe penetrant versucht haben, am Tribunal für Ex-Jugoslawien einen Job zu ergattern – mit Erfolg. Es folgten Engagements am IStGH als Opfervertreter, Nebenkläger und Strafverteidiger bei Prozessen zu Ruanda, Libanon, Sierra Leone, Kambodscha und dem "Islamischen Staat". Er verteidigte den Sohn des libyschen Ex-Diktators Muammar Gaddafi und den berüchtigten Ex-Präsidenten Liberias, Charles Taylor. Sein "Walk-out" bei diesem Verfahren, sein unerlaubtes Verlassen des Gerichts als Protest gegen mangelnde Ressourcen der Verteidigung, gilt in Justizkreisen als kontrovers-legendär – und hatte Erfolg.

Karim Khan macht meist böse Miene zum bösen Spiel, das er für den Internationalen Strafgerichtshof verfolgt. Er sieht sich auf der Seite der Menschen gegen Menschenrechtsbrecher.
AFP/DIMITAR DILKOFF

Nachdem Khan den damaligen Vize- und nunmehrigen Präsidenten Kenias, William Ruto, vor dem IStGH verteidigt hatte und der Prozess auch wegen Bedrohung und Bestechung wichtiger Zeugen der Anklage hatte beendet werden müssen – ein schwerer Schlag für das Gericht –, wurde Khan keinerlei Fehlverhalten nachgewiesen. Unumstritten ist er in Kenia dennoch bis heute nicht, auch deshalb zog sich Khan im vergangenen Jahr freiwillig von allen künftigen Kenia-relevanten Tribunalen aus Befangenheitsgründen zurück. Kenia soll neben Großbritannien zudem federführend für seine Wahl lobbyiert haben.

Mangels Konsens setzte sich Khan im Votum gegen drei weitere Kandidaten aus Irland, Italien und Spanien durch. In den verbleibenden sechs Jahren Amtszeit dürften die Einschüchterungsversuche nicht weniger werden. Khan scheint nicht gewillt, ihnen nachzugeben. (Fabian Sommavilla, 25.5.2024)