Eine spannende Preisverleihung hat die Jury des Festivals in Cannes unter dem Vorsitz von Greta Gerwig heuer abgeliefert. Nach und nach gingen die Drehbuch-, Jury- und Regiepreise an die Favoriten, bevor Greta Gerwig am Ende die Goldenen Palme vergab. Eines wenigstens stand schon im Vorhinein fest: Star Wars-Regisseur George Lucas erhielt wie Meryl Streep die Ehrenpalme für das Lebenswerk.

Als dann die Goldene Palme verkündet wurde, war die Überraschung groß, obwohl Anora vom US-Regisseur Sean Baker im Vorfeld von der Kritik gefeiert worden war. Bakers Porträt einer Erotiktänzerin, die eine turbulente Kurzehe mit einem unreifen russischen Millionärssohn eingeht, hat die Jury laut Greta Gerwig bewegt und berührt. Der 53-jährige Baker hat sich bislang mit Independentfilmen über Marginalisierte in den USA einen Namen gemacht, am bekanntesten ist sein Sozialdrama The Florida Project von 2017, das in einem verarmten Viertel am Rande von Disneyland spielt. In seiner Dankesrede sprach er sich für die Entstigmatisierung von Sexarbeit aus: "Es ist der älteste Beruf der Welt und zugleich der am meisten stigmatisierte, das ist doch verrückt."

Zu Dank verpflichtet ist der diesjährige Goldpalmen-Gewinner vor allem seiner energischen Titelheldin in Anora, Mikey Madison – ebenso wie Gerwig, die mit der Auszeichnung dem US-amerikanischen Indepententkino, deren Ikone sie als Frances Ha einst war, die Stange gehalten hat.

Überschwängliche Gewinner: Sean Baker und seine Hauptdarstellerin Mikey Madison.
Überschwängliche Gewinner: Sean Baker und seine Hauptdarstellerin Mikey Madison.
REUTERS/Clodagh Kilcoyne

Historischer Gewinn

Der zweitwichtigste Preis, der Grand Prix, ging an All We Imagine As Light von Payal Kapadia. Ein historischer Gewinn, denn noch nie war eine indische Regisseurin überhaupt in den Wettbewerb des französischen Festivals eingeladen worden. All We Imagine As Light ist ein sensibles Drama über drei Frauenschicksale im Mumbai, das den dokumentarischen Wurzeln der Regisseurin treu bleibt.

Extravagantere Töne schlug Jacques Audiards Kartellmusical Emilia Pérez an und wurde dafür zweimal belohnt: mit dem Jurypreis und der Darstellerinnenpalme für sein Ensemble bestehend aus Karla Sofía Gascón, Zoe Saldana und Popstar Selena Gomez. Es sei ein unglaubliches Jahr für Schauspielerinnen gewesen, deshalb habe sich die Jury entschieden, ein Ensemble auszuzeichnen, sagte Jurorin Lily Gladstone. Eine sichtlich aufgelöste Gascón, die als erste Transfrau in Cannes geehrt wurde, widmete den Preis Transpersonen und ihrem Leid. Die Zeiten ändern sich, so ihre hoffnungsvolle Prognose.

Karla Sofía Gascón nahm die Palme für das Darstellerinnen-Trio in
Karla Sofía Gascón nahm die Palme für das Darstellerinnentrio in "Emilia Pérez" entgegen. Sie ist die erste ausgezeichnete Transfrau in Cannes.
EPA/SEBASTIEN NOGIER

Jesse Plemons und Bodyhorror

Die Palme für die beste männliche Hauptrolle, für die die Auswahl heuer deutlich geringer war, ging verdient an den US-Schauspieler Jesse Plemons. In Yorgos Lanthimos makabrer Komödie Kinds of Kindness verkörpert er drei verschiedene Rollen, die allesamt in paradoxen Situationen des Liebesbeweises gefangen sind.

Die Französin Coralie Fargeat erhielt für ihren gefeierten feministischen Bodyhorrorfilm The Substance den Drehbuchpreis. Darin verkörpern Demi Moore und Margaret Qualley kongenial zwei Versionen einer Schauspielerin, die mit dem eigenen Altern und dem Sexismus im Showbusiness ringen. "Beautifully bonkers" nannte Jurymitglied Eva Green das Drehbuch, was sich in etwa mit "schön verblödelt" übersetzen ließe. Fargeat widmete ihren Film den Frauen und forderte eine gemeinsame Revolution gegen Sexismus und Schönheitszwang.

"The Substance"-Filmregisseurin Coralie Fargeat und ihr Star Demi Moore in Cannes. Auch Moore hätte einen Darstellerinnenpreis verdient gehabt.
REUTERS/Sarah Meyssonnier

Spezialpreis an Rasoulof

Miguel Gomez wurde für seine Regieleistung im portugiesischen Wettbewerbsbeitrag Grand Tour belohnt, und Mohammad Rasoulof erhielt für den favorisierten iranischen Politthriller The Seed of the Sacred Fig, der erst am Freitagabend mit tosendem Applaus bedacht worden war, den Spezialpreis der Jury. In seinem unter schwierigsten Umständen entstandenen Film geht der Iraner hart wie nie mit dem Regime in Teheran ins Gericht. The Seed of the Sacred Fig handelt von der Familie eines Richters, der soeben befördert wurde und nun mit der Aufgabe betraut ist, diejenigen zu verurteilen, die wegen des Todes der kurdischstämmigen Iranerin Jina Mahsa Amini auf die Straße gehen. Der Beruf ihres Vaters wird seinen Töchtern nach und nach zum Dorn im Auge.

In seiner Dankesrede betonte Rasoulof den Ernst der Lage im Iran. Die Bevölkerung werde in Geiselhaft genommen, Menschen würden grundlos zu Tode verurteilt. Für Schlagzeilen sorgte jüngst seine eigene Verurteilung zu acht Jahren Haft, woraufhin er kurz vor der Filmpremiere illegal aus dem Iran geflohen ist. Da sein Name wegen früherer Verhaftungen durch das Regime nicht mit dem Filmdreh assoziiert werden durfte, wussten seine Darsteller nicht, in wessen Film sie mitspielten. Das Material wurde nach Europa geschmuggelt, dort kam es zu Schnitt und Postproduktion. Die Schauspielerinnen, die die Töchter in The Seed of the Sacred Fig verkörpern, waren ebenfalls in Cannes, die Darsteller der Eltern, Missagh Zareh und Soheila Golestani, wurden im Iran festgehalten. Rasoulof hielt ihnen zu Ehren immer wieder Fotos in die Kamera.

Die Schauspielerinnen Setareh Maleki und Mahsa Rostami halten gemeinsam mit dem Regisseur Mohammad Rasoulof Bilder ihrer im Iran festgehaltenen Co-Stars in die Kamera: Missagh Zareh und Soheila Golestani.
Die Schauspielerinnen Setareh Maleki und Mahsa Rostami halten gemeinsam mit dem Regisseur Mohammad Rasoulof Bilder ihrer im Iran festgehaltenen Co-Stars in die Kamera: Missagh Zareh und Soheila Golestani.
AFP/VALERY HACHE

Und die Palme Dog?

Im Wettbewerb Un Certain Regard wurde der Film Black Dog des chinesischen Regisseurs Guan Hu ausgezeichnet, der heimische Regisseur Mo Harawe ging leer aus.

Den Großen Hundepreis einer Kritikerjury erhielt Xin, der Windhund, der in Black Dog die Hauptrolle spielt. Der Hauptpreis Palm Dog aber, der letztes Jahr an Messi aus dem Goldpalmen-Gewinner Anatomie eines Falls ging, erhielt heuer der Griffon-Mix Kodi aus der französischen Komödie Dog on Trial.

Es war ein abwechslungsreicher Wettbewerb beim 77. Festival von Cannes, der 22 Filme über alle Genregrenzen hinweg gezeigt hat. Darunter waren auch zahlreiche namhafte Ü80-Regielegenden wie Francis Ford Coppola, Paul Schrader oder David Cronenberg. Sie alle gingen leer aus, denn die Jury unter Greta Gerwig entschied sich in ihren Preisvergaben für eine jüngere Generation von Autorinnen und Autoren aus aller Welt. (Valerie Dirk, 25.5.2024)