William Gibson: "Quellcode"
Gebundene Ausgabe, 447 Seiten, € 23,20, Klett-Cotta 2008.
Ironie der Geschichte: 1981 schrieb William Gibson die Kurzgeschichte "Das Gernsback-Kontinuum", in der der Protagonist die Vision einer Zukunft erlebt, die nie zustande kam: ganz nach den Vorstellungen Hugo Gernsbacks und seiner Zeitgenossen voller hehrer Marmorstädte, zwischen deren Riesengebäuden in Togas gehüllte edle Menschen in Luftschiffen herumschweben. - Als Hauptvertreter des Cyberpunk schuf Gibson in den Jahren danach sein eigenes Kontinuum ... das nahe genug an der Wirklichkeit blieb, dass er es nun, ein Vierteljahrhundert später, ohne wesentliche Abstriche fortführen kann, um die Gegenwart zu beschreiben.
Denn "Quellcode" liest sich zwar wie ein Science Fiction-Roman, ist aber im Jahr 2006 und damit bewusst vor der englischsprachigen Original-Veröffentlichung angesiedelt. Gibson macht sich sogar ein paar Mal über die geringen Diskrepanzen zwischen seinen früheren Werken und dem realen Heute lustig: Etwa wenn die Hauptfigur Hollis Henry, eine ehemalige Rocksängerin, sinniert, wie lange sie den Begriff Virtual Reality schon nicht mehr gehört hat. Locative Art heißt das heute, und darüber soll sie einen Artikel für ein noch gar nicht existierendes Magazin schreiben - glaubt sie zunächst. Denn bald findet sie heraus, dass es ihrem Auftraggeber in Wahrheit darum geht, über den zu interviewenden Künstler, einen GPS-Hacker, den Aufenthaltsort eines geheimnisvollen Containers, der seit Jahren über die Weltmeere schippert, herauszubekommen.
Hinter dem sind auch - mehr gezwungen als freiwillig - Tito und Milgrim her. Ersterer ein von kubanischen Santería-Göttern geleiteter Kleinkrimineller mit Beziehungen zu ehemaligen Geheimdienstlern, letzterer Geisel des dubiosen Agenten Brown, der Tito überwacht und für den Milgrim in Geheimsprache verschickte SMS übersetzen muss. Aus den wechselnden Perspektiven von Hollis, Tito und Milgrim setzt sich allmählich die Geschichte zusammen, die sich im Gespensterland der Geheimoperationen (Originaltitel: "Spook Country") bewegt. Allen drei Hauptfiguren ist gemeinsam, dass sie von einer Welt, die vom Handel mit Information bestimmt wird, nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekommen und dass sie von Mehr-Wissenden fremdgesteuert werden.
Natürlich trimmt Gibson die Geschichte ein wenig auf sein früheres Werk zurecht: Er betont Multi-Ethnizität, die Allgegenwart von Informationstechnologie und die weltweite wirtschaftliche Vernetzung (letzteres in Form einer nicht enden wollenden Parade von Markennamen: uns geläufiger ebenso wie mexikanischer, koreanischer, chinesischer und und und). Aber warum nicht: erstens ist und bleibt Gibson ein großer Erzähler. Und zweitens - wie schon sein passend gewähltes Zitat am Buchrücken sagt: "Die Zukunft hat schon begonnen. Sie ist nur sehr ungleichmäßig verteilt."