Silver Jews: "Lookout Mountain, Lookout Sea" (Trost)

Foto: Trost

"Ich lese, schaue Nachrichten und mache mir Notizen. Ich gehe mit dem Hund spazieren, und jeder Tag ringt mir eine Entscheidung ab: Nehm ich den Herzattacke-Hügel oder doch den flachen Weg zurück nach Hause. Auf diese Weise wird jeden Tag mein Mut getestet."

Der Mann, der hier auf lakonische Weise seinen Alltag schildert, heißt David Berman und ist einer der größten lebenden Songschreiber. Jüngster Beleg dieser unumstürzlichen Tatsache ist das Album Lookout Mountain, Lookout Sea, das der in der US-Country-Metropole lebende Bartträger mit seiner Band Silver Jews eben veröffentlicht hat. Diesen Titel kann man sich ab sofort aufs T-Shirt malen, ein Cooler-Hund-Faktor wäre damit abonniert, Distinktion garantiert. Mit diesem Album festigt der 41-Jährige seine Ausnahmestellung, die er in der Vergangenheit auch dadurch unterstrichen hatte, weil er sich beharrlich weigerte, sich den Mühen von Tourneen auszusetzen. Diese konvenierten seinen Depressionen nicht so toll, und auch die Versorgungslage bezüglich gewisser Gewohnheiten schien ihm auf Tour nicht gesichert.

Aufgetaucht ist Berman in den frühen 90ern im Dunstkreis der Slacker Pavement, die wenig später in den Indie-Rock-Himmel aufsteigen sollten. Mit ihnen spielte er einen zurückgelehnten, gerne etwas quengelig bis ermattet klingenden und meist ein wenig schäbig montierten Countryrock, dem Berman im Wesentlichen bis heute die Treue hält. Die Jews debütierten 1994 mit Starlite Walker, ein erstes Meisterwerk gelang ihnen mit American Water (1998), auf dem die Jews'sche Ästhetik, zwischen irgendwie bekannt und sich aber doch nicht zwischen die Stühle setzend, voll erblühte. Aber das ist alles nichts gegen Lookout Mountain, Lookout Sea.

Nicht nur dass Berman heute längst wie ein reinkarnierter Johnny Cash minus dessen Bibelbreitseite klingt, auf seinem sechsten Album balanciert er die immer auch vorhandenen Pop- und Rock-Elemente mit so noch nicht gehörter Grandezza. Das bedeutet, dass neben dem typischen Slacker-Schlurf-Rock eine gesunde Lebendigkeit Platz findet, die sich in kleinen Zwischensprints wie etwa Aloysius, Bluegrass Drummer manifestiert. Ein mit dominant-angezogenem Piano und einem Zugrhythmus gen Horizont schießender Song.

Suffering Jukebox ist dann wiederum reinste und beste Silver-Jews-Hausmarke: Westcoast-Sixties-Gitarren, wie sie sich Alex Chilton (Box Tops, Big Star ...) als ähnlicher Charakter auch schon vor Berman angeeignet hat, geben dem vorherrschenden Midtempo eine wunderbare Leichtigkeit, die von der den Refrain in eher breitem Südstaaten-Idiom anlegenden Cassie Berman, unseres Helden angetrauter Heldin, kongenial ergänzt wird. Sonnenaufgang im Herzen!

Die beiden gelten nicht nur als Traumpaar des Alternative Country, sie werden deswegen auch beständig mit Johnny Cash und June Carter verglichen, was sich allerdings nur bedingt aufdrängt - auch wenn Berman im Song San Francisco B.C. tatsächlich schwerst nach dem jungen Mann in Schwarz klingt. Dennoch ist er eher in der Tradition der sogenannten Nashville Outlaws zu sehen, eines losen Zirkels von Musikern, die Ende der 60er, Anfang der 70er in Nashville nicht nur die Country-Tradition pflegten, sondern sie zusehends mit den Einflüssen der damaligen Gegenkultur anreicherten. Figuren wie Kris Kristofferson, Tony Joe White, Waylon Jennings, Donnie Fritts, Willie Nelson et al.

Seit damals ist aber nicht nur viel Kuhmist in den Mississippi gekarrt worden, auch Punk hat der ehemalige Museumswächter Berman als Kind seiner Zeit verinnerlicht. Das bedingt in der Welt der Silver Jews eine brüchige Schönheit, die sich an Traditionen lehnt, ohne diese vollends zu erfüllen, geschweige denn ihnen zu vertrauen. Weshalb bei Berman der Konjunktiv auch im Dauereinsatz ist: Mit What Is Not But Could Be If beginnt er, am Ende steht das hoffnungsvolle We Could Be Looking for the Same Thing , eines der schönsten Liebeslieder seit ewig. Produziert hat dieses Meisterwerk unter anderem Mark Nevers, bestens bekannt von Lambchop. Mehr dann von David Berman selbst und vom Tonträger. Ohne diesen geht heuer nichts! (Karl Fluch / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6.6.2008)