Foto aus: "Hatschi Bratschis Luftballon", Forum Verlag

Der zeitgeistige Hatschi Bratschi Ernst von Dombrowskis aus dem Jahr 1933 zeigt den "Orientalen" an sich: Wenn es kein Jude ist, dann eben ein Türke.

Mit "Hatschi Bratschis Luftballon" sind Generationen von Kindern aufgewachsen, auch die Autorin. Mitgegeben wurden ihnen Bilder vom Orient, die sich mit der Zeit signifikant gewandelt haben.

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Die besonders fleißigen und gescheiten Kinder konnten ihn auswendig, Hatschi Bratschis Luftballon, wobei der Titel von vielen, auch von mir, als "Hatschi Bratschi Luftballon", ohne Genitiv-s also, dahergeplappert wurde. Wie auch immer, bei vielen Erwachsenen meiner Generation ist der Text zumindest noch in Resten abgespeichert, das kann man im Bekanntenkreis nachprüfen:

Es spielt der kleine Fritz allein Auf grüner Flur im Sonnenschein.

So beginnt die Geschichte, aber über dem Idyll der grünen Wiese zieht recht schnell der große rote Luftballon des "Zauberers" auf:

Der böse Hatschi Bratschi heißt er, und kleine Kinder fängt und beißt er.

Ich gehöre zu jener Altersgruppe, die noch die letzte Ausgabe vor der ersten – relativ – "politisch korrekten" gehabt haben muss: Diese "korrekte" wurde 1962 von Wilfried Zeller-Zellenberg illustriert, 1968 folgte ihr die letzte von Rolf Rettich nach. Der Wiedererkennungseffekt war sofort da, als ich vor kurzem die tanzenden "Neger" wiedersah, von denen einer mit herausgerecktem Popöchen und einem Messer zwischen den Zähnen die Palme hinaufklettert, um den kleinen Fritz in seinem Ballon zu erreichen:

Aber mit dem großen Messer / Kommen schon die Menschenfresser. / Tückisch nähern sie sich leise, / Kletternd nach der Affen Weise. / "Fangt ihn nur, geschwind, geschwind!" / Schreit das Menschenfresserkind. / "Schnell, das Wasser ist schon lau!" / Ruft die Menschenfresserfrau.

Bei Grete Hartmann, die das Buch in den frühen 1950er-Jahren zeichnete, war die Menschenfresserepisode noch vorhanden, und das war "meine" Ausgabe: Meine Schwester war ein paar Jahre älter als ich, und für mich wurde natürlich nicht extra die neue Edition angeschafft. Aber nachdem 1962 – ein Jahr vor dem Tod des Autors Franz Karl Ginzkey – durch Textbereinigung und neue Illustrationen aus den Kannibalen niedliche Affen geworden waren, musste 1968 auch das "Türkenland" daran glauben. Hatschi Bratschi stammte fortan schlicht aus dem "Morgenland":

Er spricht und droht ihm mit der Hand: / Du kommst mit mir ins Morgenland (zuvor: Türkenland), / Da hilft kein Schrei'n und Weinen, / Kein Strampeln mit den Beinen!

All das konnte den Hatschi Bratschi aber nicht als Kinderbuch für die Gegenwart retten: Moralisierende Kinderbücher – bekanntlich gerät Fritzchen in die Bredouille, weil er der "guten Mutter" nicht gehorcht, wenn auch, anders als bei Struwwelpeter, die Geschichte gut ausgeht – Bücher also, in denen die Strafe dem Ungehorsam auf dem Fuß folgt, sind out. Nichts mehr mit "Mut hat auch der Mameluk, Gehorsam ist des Christen Schmuck". Und erst einmal hatte das Morgenland als Herkunftsort der Kinderverzahrer und anderer schlimmer Sachen ausgedient: "erst einmal" deshalb, weil das heute, in Zeiten der surrealen Islamophobie, vielleicht ja schon wieder anders ist.

Spitze Zähne, spitze Nase

Der Hatschi B. – der Titel Hadschi kommt von Hadsch, Pilgerfahrt nach Mekka, und bezeichnet einen, der diese absolviert hat – blickt auf eine lange Geschichte zurück: Ginzkeys Buch war erstmals 1904 in Berlin erschienen, 1922 wurde es mit künstlerischen Illustrationen von Erwin Tintner neu herausgebracht. Die Ausgabe des Anton-Pustet-Verlags in Salzburg mit den Zeichnungen von Ernst von Dombrowski (1896– 1985) zeigte einen Hatschi, der dem Stürmer alle Ehre gemacht hätte: Von den spitzen Zähnen unter seiner semitischen – dabei war er doch ein Türke! – Hakennase sieht man quasi das deutsche Kinderblut tropfen. Franz Karl Ginzkey (1871–1963) – übrigens ist ein Text von ihm zu einer Beethoven-Melodie seit 1965 niederösterreichische Landeshymne – wird es nicht übermäßig gestört haben, er stand den Nationalsozialisten nahe, was seine Nachkriegskarriere nicht behinderte.

Auch Hans Magnus Enzensberger gehört nach eigenen Angaben zu jenen, die Hatschi Bratschis Luftballon auswendig konnten, "wozu ich es bei andern Büchern, die mir lieb sind, wie Krieg und Frieden oder Jacques le fataliste, nie gebracht habe". In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stellte Enzensberger 2004 den Hatschi, und zwar in der "einzig wahren, einzig echten" Ausgabe von Tintner, nicht nur als sein Lieblingsbuch vor, sondern beklagte auch laut dessen Rezeptionsgeschichte:

"Nichtswürdige Verleger haben es verstümmelt, blöde Illustratoren verfälscht, pädagogische Aufseher kastriert, und am Ende wurde es ganz aus dem Verkehr gezogen, weil es ja, wie jeder aufgeklärte Mensch weiß, gar keine Hexen gibt und keine Zauberer im Morgenland und erst recht keine Menschenfresser in Afrika, und weil man scharf aufpassen muss, dass die kleinen Kinder nicht auf falsche Gedanken kommen."

Nun ja, immerhin gibt Enzensberger zu, dass er sich das verlorene Buch nicht nachkauft, aus Angst vor Enttäuschung. Karl Markus Gauß, ebenfalls mit Hatschi (der Hartmann-Ausgabe) aufgewachsen, nennt das Buch bei aller Liebe 1999 in der Presse hingegen "ein rassistisches Machwerk. So sehr können die heutigen Illustrationen den Text gar nicht verharmlosen, dass seine Tendenz, das Böse mit den heimtückisch hereinbrechenden dunklen Menschen des Ostens zu identifizieren, nicht unverkennbar bliebe."

Negative Stimmung

In den Niederösterreichischen Nachrichten merkt 2007 ein nicht genannter Autor an, dass das Buch "wohl auch die deutlich negative Einstellung vieler Österreicherinnen und Österreicher zum EU-Beitritt der Türkei mitbestimmt" hat. Und wir haben immer geglaubt, Kara Mustafa ist schuld! Aber wahrscheinlich sind die beiden ja identisch.

Spaß beiseite, wie stark die Bilder im Kopf auch noch zumindest zu Beginn der Ära, in der die Menschenfresser schon verbannt waren, weitergelebt haben, zeigt ein "Spielbilderbuch", dem ich unlängst auf einem Flohmarkt nicht widerstehen konnte: Mori, die kleine Negerpuppe (Kopf und Beine können vom hinteren Buchdeckel ausgeklappt werden, Mori ist dann jeweils mit dem auf der rechten Buchseite abgebildeten Outfit zu sehen), schläft in diesem Büchlein ein und träumt das, was kleine brave Mädchen eben so geträumt haben in den 1960er-Jahren:

Als Kinderfräulein, stolz und grade, / spaziert sie auf der Promenade ... Dann aber ist der Traum aus, und man hat jetzt / Klein Mori hinter Glas gesetzt: Und zwar angetan mit dem, was sozusagen zu Moris genetischer Ausstattung gehören muss, nämlich einem Baströckchen und einer Blütengirlande um den Hals.

Unter den Spontanassoziationen zum Thema "Negerkind" auf dem österreichischen Nachkriegsland ist übrigens auch die Sammelbüchse in katholischen Kirchen zu finden, die bei Spenden für die Mission brav mit dem schwarzen Köpfchen nickte. Ich wäre nicht so sicher, dass dieses Bild schon verschwunden ist.

Aber zurück zu unserem Orientreisenden, dem kleinen Fritz. Seine Luftballon-Route geht von Deutschland über Italien übers Meer zu den Menschenfressern (oder Affen), dann noch einmal übers Meer an die "fremde Küste" mit anschließender "großer Wüste" und weiter ins Morgenland (oder Türkenland), wo er die von Hatschi Bratschi früher gefangenen (und notabene immerhin nicht gefressenen) Kinder befreit.

Also, wo liegt es eigentlich, dieses Morgenland? Orient und Afrika, das lag in der Bildersprache für die Okzidentalen jedenfalls immer schon eng beisammen, nicht weiter überraschend, wenn man sich am arabisierten und osmanisierten Nordafrika, dem Land der Mauren, orientiert. Aber es galt eben auch für die Regionen weiter südlich. Ein eindrucksvolles Beispiel stammt aus Wien: Der (später ausgestopfte und im Museum ausgestellte) hochfürstliche "Wiener Hofmohr" Angelo Soliman (1721– 1796), der eigentlich aus Ostafrika stammte und Mmadi-Make hieß, trat nicht nur bei festlichen Anlässen mit orientalischen Gewändern ausstaffiert auf. Er selbst scheint diese Identität völlig akzeptiert zu haben. Wann sich der als Kindersklave irgendwie in Sizilien Gelandete den christlich-osmanischen Namen zulegte, ist nicht gesichert. Jedenfalls wurde er zwar kein Weißer, aber immerhin ein Orientale.

Im Naturalienkabinett

Andrea Polaschegg arbeitet in Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert gut heraus, wie im Fall Soliman es andererseits gerade der Entflechtung von Orient und Afrika bedurfte, um ihn zum ethnologischen Ausstellungsstück des Naturalienkabinetts zu machen: In einer "topologischen Transformation" wurde aus dem eleganten Mauren als Leiche, ohne Kleider, dann wieder ein echter "Neger", dem man einen Federgürtel um die Lenden legte und eine Federkrone auf den Kopf setzte. Arme und Beine wurden mit Glasperlen verziert. So wurde er ausgestellt, dem Publikum zur Belehrung und Ergötzung. Polaschegg formuliert es als Konzept des Orients als "anderer Kultur" im Unterschied zu dem Konzept Afrikas als ein "Anderes der Kultur".

Für unser Fritzchen bleibt Afrika jedoch nur ein furchterregender Abstecher; uff, noch einmal gut gegangen das mit den Menschenfressern (Affen sind ja auch nicht ganz ungefährlich). Mit seinem Weiterflug zur Wüste, ist die Reise wieder unmissverständlich orientalisch konnotiert. Als bloße Landschaft reichte die Wüste lange, um automatisch "das Morgenland aufzurufen" (Polaschegg), worauf auch Karl May völlig vertrauen konnte, der beim Titel des ersten Bandes seiner Orientreihe, Durch die Wüste, nicht fürchten musste, dass sich etwa jemand im Kontinent irrt. Die Wüste, das ist der Orient. Wenn ihr noch ein kleines architektonisches Detail als Marker beigegeben wird (zum Beispiel eine Moschee mit Minarett, wie in Rolf Rettichs Hatschi-Illustration), dann ist es natürlich umso sicherer. Das wurde aber eigentlich erst im 20. Jahrhundert nötig.

Chakamankabudibaba

Namensmäßig gibt ja unser Hatschi Bratschi weniger her als die Verortung seiner Geschichte: Die Herkunft von Hatschi liegt auf der Hand, und hinter Bratschi steckt wohl nicht mehr als der bloße Reim. Trotzdem erinnert der zweiteilige Name an die Tradition von Wilhelm Hauff, der wie kein anderer den Orient für die Kinder in den Westen geholt hat.

Der Großteil seiner Erzählungen in den Märchen-Almanachen "für Söhne und Töchter gebildeter Stände" spielt im Nahen und Mittleren Osten, und die Namen, von Personen und Orten gleichermaßen, sind ein Gemisch von Fantasiegebilden (Chakamankabudibaba), fiktiven, aber "richtigen" Namen (Bebel Falch könnte etwa als Bab al-Falah gelesen werden, auch wenn ein solches nicht bekannt ist) und tatsächlich existierenden Personen und Ortsnamen. Bevor wir uns jetzt aber in der deutschen orientalistischen Namenskunde verlieren – auch Johann Wolfgang von Goethe pflegte seine arabischen Schreibübungen vorwiegend anhand von Namen zu absolvieren – oder auch in den sprachlichen Verballhornungen (simsalabim für "bi-smi llahi r-rahmani r-rahim", Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen), kehren wir wieder zurück zu den Reisenden in den Orient. Es müssen ja nicht immer Deutsche sein, und auch nicht fiktive Reisende wie Karl May, und ebenso nicht unfreiwillige wie Ginzkeys Fritzchen. Und das Publikum müssen auch nicht Kinder sein.

Orientalismus

West Meets East. Klassiker der britischen Orient-Reiseliteratur von Christoph Bode (als Herausgeber) hat auch schon wieder elf Jahre auf dem Buckel. Aber es sei denjenigen empfohlen, die sich vom im Jahr 2006 erschienen Der Weltensammler von Ilija Trojanow verzaubern (dieses Kitschwort ist mit Bedacht gewählt) ließen, dem wunderbaren Roman über Richard Francis Burton, dem eben auch ein Abschnitt in West Meets East gewidmet ist. Da sind wir mitten im Orientalismus. Mit dem westlichen Blick auf den Nahen und Mittleren Osten hat sich bekanntlich schon Edward Said in Orientalism intensiv beschäftigt – der Osten sei eine "Erfindung" des Westens, und ohne den orientalistischen Diskurs aufzulösen, könne man sich dem Orient nie annähern.

In seiner trockenen Art hat der syrische Philosoph Sadik J. al-Azm mit einer Kritik des östlichen "Okzidentalismus" entgegnet. Said hat ihm das nie verziehen – wobei ihm jedoch zugutezuhalten ist, dass der westliche (und besonders britische) Orientalismus des 19. Jahrhunderts eben durchaus mit politischen Taten verknüpft war, und nicht umgekehrt. Trotzdem, ganz allgemein, jedem, der viel im "Orient" zugange ist und einigermaßen seine Urteilsfähigkeit bewahrt (was in diesen Zeiten nicht einfach ist), gehen die dortigen Imaginationen des Westens bald genauso auf die Nerven wie die westlichen über den Osten.

Man könnte West Meets East als Typologie von Orientreisenden lesen: Da gibt es jene, die den Orient benützen, um ihre europäische Identität zu stärken, aber auch jene, die mit europäischen Stereotypen über den Orient aufräumen. Die einen im positiven, freundlichen Sinn: Sie versuchen Bilder zurechtzurücken – Lady Montagu etwa entdeckt im türkischen Bade und hinter dem Kopftuch die Freiheit und schließt auf die Unfreiheit der Frauen im Westen. Bitte kein feministischer Aufschrei, wir sprechen vom Jahr 1763.

"Einsamkeit der Wüste"

Andere räumen hingegen gerade mit den romantischen Vorstellungen über den Orient auf: Köstlich boshaft Alexander Kinglakes Beschreibung der angeblichen Einsamkeit der Wüste im Kontrast zu Lord Byrons Childe Harold's Pilgrimage (zivilisationsmüder Jüngling sucht die Wildnis). Das Leben der Araber stellt sich für ihn als Zelt dar, das in zwei Teile geteilt ist "as to separate the twenty or thirty brown men that sit screaming in the one compartment from the fifty or sixty brown women and children that scream and squeak in the other". Kingslake, der 1834 – anders als die meisten damaligen Orientfahrer völlig unbeleckt, als ein Vorläufer der heutigen Touristen – seine 15-monatige Reise antrat, beschreibt, was er fühlt, nicht was er fühlen sollte.

Der schon erwähnte geniale Richard Francis Burton, der 29 Sprachen gesprochen haben soll, ist unter allen ein Sonderfall: Er ist die "verkörperte Überlegenheit" dadurch, dass er sich eine orientalische Identität zulegt, der Superorientale, der nicht nur in eine orientalische Haut schlüpfen, sondern das auch gleichzeitig von außen reflektieren kann.

Heraus kommt durchaus Ambivalentes: Attraktion und Abstoßung, ein Riesenrespekt für den Islam (den er dem Urchristentum nahe stehend sieht) und Verachtung für die "animalische Existenz", die "Faulheit" des Orientalen. Und dann wieder der edle Beduine in der erhabenen Wüste – eine Notion, die später mit schuld an der katastrophalen Irak-Politik der Briten nach dem Ersten Weltkrieg sein wird, als sie die entstehende moderne städtische Elite durch ihre Präferenz der Stämme abwürgten.

Kara Ben Nemsi Burton

Reinhard Schulze weist in seinem Burton-Artikel darauf hin, dass Karl May "sich im Stil und in der Informationsverarbeitung eng an seinem Vorbild (Burton) orientierte": der unerkennbar verkleidete Europäer Kara Ben Nemsi, der alle orientalischen Sprachen spricht, Arzt und Freund der Beduinen ist. Unser Fritzchen hat das alles freilich nicht, aber er setzt seine kulturelle Überlegenheit als echter deutscher Bub trotzdem durch: Die Diener werfen sich aufs Knie, / Der Fritz ist nun der Herr für sie. Danach servieren sie das Essen. "The essence of Oriental discipline is personal respect based upon fear", wie Burton schon sagte. (Gudrun Harrer, DER STANDARD Printausgabe, 14./15.6.2008)