Sergej Lukianenko: "Weltengänger" und "Weltenträumer"
Broschiert, 589 Seiten, € 15,50 bzw. 493 Seiten, € 14,40, Heyne 2007/08.
Die Geschichte beginnt mit einem Identitätsverlust - und zwar einem von außen auferlegten: Kirill Maximow, Mitte zwanzig, ist Verkäufer in einem Moskauer Computerladen ... bis eines Tages in seiner Wohnung "schon seit Jahren" jemand anderes lebt, Angehörige ihn nicht mehr erkennen und sein Hund ihn verbellt. Als sich auch noch die Dokumente, die seine Existenz bezeugen, vor seinen Augen auflösen, ist klar, dass mehr als nur eine menschengemachte Verschwörung hinter den Vorgängen stecken muss. Dieselbe mysteriöse Macht, die Kirill seiner bisherigen Existenz beraubt, bietet ihm jedoch eine Alternative: Er wird zum Funktional gemacht - jemand, der in seiner Profession unnachahmliche Vollkommenheit erreichen kann und zu diesem Zweck mit besonderen geistigen und körperlichen Kräften ausgestattet wird. Kein Superheld, eher ein Superarbeiter - und noch dazu einer an der (virtuellen, aber wirksamen) Leine: Denn jedes Funktional ist an den Ort seiner Funktion gebunden, jenseits der Leinen-Reichweite bleibt es ein normalsterblicher Mensch, den - im wahrsten Sinne des Wortes - niemand kennt.
Über dieses Grundkonzept ließe sich bereits prima philosophieren - doch bildet es natürlich nur den Ausgangspunkt einer ebenso vielschichtigen wie actionreichen Handlung. Es gibt auch Kellner- und Friseurfunktionale, was für einen Romanprotagonisten wohl etwas weniger hergäbe ... Kirill hat aber das Glück, zum Zöllner bestimmt zu sein, dem Hüter eines Turms, der zu anderen Welten führt. Lukianenko dreht damit eine früher schon einmal verwendete Handlungsidee (in "Spektrum", 2002) ins Gegenteil um: Damals war der Protagonist der Reisende, der sich mit rätselhaften "Pförtnern" bzw. Schließern konfrontiert sah, Kirill hingegen schlüpft in die komplementäre Rolle. Nichtsdestotrotz darf er die erreichbaren Welten - jeweils auf Leinenlänge - ebenfalls besuchen.
Als Kirill sich gegen seine Zwangsfunktionalität auflehnt, vergrößert sich seine Besuchstätigkeit noch. Und Sergej Lukianenko hat damit wie schon in "Spektrum" Gelegenheit, eine Reihe origineller Welten zu schildern: Veros etwa, eine Art Version der Erde des 19. Jahrhunderts, die statt Nationen nur Stadtstaaten kennt. Oder Feste, wo die weltumspannende Kirche so fest im Sattel sitzt, dass sie es sich leistet großzügig Glaubensfreiheit zu gewähren und - dem "Heiligen Darwin" sei Dank - mittels Biotechnologie Tier- und Pflanzenwelt spektakulär manipulieren kann (schließlich wurden nur die Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen). Allesamt sind es alternative Versionen unserer Erde, und allesamt wurden und werden sie von derselben Instanz, die Kirill zum Funktional gemacht hat, in ihrer Entwicklung manipuliert. Die verantwortliche Instanz und ihre Ziele zu entschleiern macht Kirill sich zur Aufgabe, die sich über beide Bände erstrecken wird. Weshalb diese auch unbedingt zusammen gelesen werden sollten!
Der anhaltende Lukianenko-Boom, von dem inzwischen sowohl seine früheren Werke als auch diejenigen anderer russischer AutorInnen profitieren, geht letztlich auf den Siegeszug der Verfilmungen seiner "Wächter"-Romane zurück, für die Lukianenko auch selbst am Drehbuch mitarbeitete. Und die Bücher spiegeln das Erfolgsrezept der Filme wider: Einerseits werden die Erwartungen an eine spannende Handlung voll erfüllt - und andererseits erhält diese ihre besondere Würze dadurch, dass sie nicht alteingefahrenen Schemata entspricht, sondern sich immer wieder darin gefällt ... ein bisschen anders zu sein. Die Figuren treffen überraschende Entscheidungen und ein scheinbar unvermeidlicher klassischer Showdown kann zur Anti-Klimax mutieren. Auch die Figur Kirills selbst entspricht weder dem Helden- noch dem Antihelden-Stereotyp. Mal tritt er in Ismael-artiger Aufgeschlossenheit der Welt recht großmäulig entgegen, dann macht er sich selbst wieder augenzwinkernd runter. Und mit ihm gleich ganz Russland, dessen - zumindest bei Lukianenko - gefühlte kulturelle Unterlegenheit gegenüber Westeuropa immer wieder thematisiert wird; freilich ohne dass die Figuren davon in eine seelische Krise gestürzt würden.
Jedes Kapitel beginnt mit kurzweiligen alltagsphilosophioschen Abschweifungen Kirills bzw. Lukianenkos über gutes Essen, das Fernsehen, die Beliebtheit von Hausmänteln, kurz: über Gott und die Welt. Anspielungen auf Science Fiction- und Fantasywerke - russische ebenso wie westliche - werden fröhlich mit der Gießkanne ausgeschüttet und überhaupt sorgen humoristische Splitter immer wieder für Auflockerung. Eine hör- und bewegungsmäßig herausgeforderte Person mit alternativer Körperhaltung als Umschreibung Quasimodos ist kein schlechter Kommentar zu den sprachlichen Blüten der Political Correctness - und all so etwas mit durchaus ernsthaften philosophischen Betrachtungen und einer ungebrochen spannenden Handlung zu verweben, das ist Lukianenkos große Kunst.