"Man darf nicht darüberstehen", sagt in einer Pause Franz Rickenbauer über das Filmen, "man muss darin versaufen." – Die Viennale lässt einen dies befürchten und zugleich erhoffen. Aber wie versauft einer, der ein Ziel wie Rickenbauer im Blick hat, nämlich die Darstellung des Verschwindens einer Gemeinde? Er betont während des ganzen Gesprächs sein Nichtwissen. "Ich liebe die Menschen", sagt er stattdessen, "ich sehe ihnen zu." Und wobei?

Er hat eine jüdische Gemeinde, Delémont im Jura, entdeckt. Fünf alte Frauen und zwei alte Männer sind gerade noch übrig: Robert Lévy, Ingenieur und Gemeindevorsteher etwa. Die Viehhändlerfamilien Sommer und Lévy waren im ganzen Tal geachtet, "sie gehörten zu uns", erklärten die jurassischen Bauern. Jetzt schwindet alles dahin.

Vor allem fehlt für den Synagogenbau die vorgeschriebene Mindestzahl von zehn Gläubigen. Der Glaube war groß, aber er half nichts. Töchter, Mütter, Schwestern zählten nicht, und Zuzug gibt es keinen. Zwei der Gemeinde-Mitglieder sind seit dem Dreh gestorben: André Sommer, der im Film sein nachlassendes Augenlicht feststellt, und Trudy Meyer, Witwe des Näh- und Strickwarenhändlers Edmond Meyer, die die Sabbatkerzen vorsichtig und ganz für sich anzündet.

Aber: "Hätte ich nur die religiösen Praktiken gezeigt, die tatsächlich ganz speziell sind, dann hätte ich die Juden wieder in die Ecke einer Minderheit gedrängt. Ich widme den Film jenen kleinlichen Schweizern, die Angst haben vor der Tatsache, dass unter uns 18.000 Menschen jüdischen Glaubens leben."

Fast zögert man, diesen Satz zu zitieren. Er scheint vorerst ebenso unspektakulär wie sein Verfasser. Obwohl er schon mit Die Nacht des Schleusenwärters Erfolg hatte. Die Frage stellen, wie er von den Schleusen und ihren Wärtern zu den Synagogen und den ganz wenigen gelangt, die noch nach ihnen verlangen. Sogar darauf bestehen. Beharrlich mit der Kamera den Vorbereitungen auf den Tod folgen.

Noch existieren in Delémont zwei alte Männer und sieben alte Frauen, den sieben Geißlein oder den sieben Zwergen vergleichbar. Sowohl mit den Geißlein als auch mit den Zwergen haben sie viel zu tun, aber die Wölfe sind geschickt verborgen. Und Schneewittchen bleibt fort.

Die sieben alten Frauen mit ihren bunten Kleidern und dem vom Dorffriseur aufgesteckten und zu steifen Frisuren sind glücklichere Nachfahren dieser Märchenfiguren, auch der Gänsehirtin. Diese Außenseiter wollen eine Synagoge bauen. Sie sind zuversichtlich. Oder, wie es einmal von einem der beiden Männer heißt: "Er strahlt eine zuversichtliche Note für die Zukunft aus."

Diese unglaubliche, zuweilen fast erbitternde, Zuversicht teilt Rickenbach mit den Juden, von denen er, wie er sagt, so wenig weiß. Aber so viel sieht. Sein Film, der mit der Aussicht auf eine unauffällige, architektonisch eher miss-lungene Synagoge beginnt, wird zu den wichtigsten der Viennale gehören.

Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel und der an ihn anschließende De grote Vakantie von Johan van der Keuken, der mit der Diagnose von Utrechter Krebsspezialisten beginnt und mit einem Drachenflug des totgesagten Patienten endet, haben evident eines gemeinsam: den Widerstand gegen das Verschwinden – und eine versteckte Lust daran. Das kommt einem meiner frühesten und stärksten Wünsche entgegen: dem eigenen Verschwinden, der Verborgenheit.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16. 10. 2000)