Die Viennale holt in diesem Jahr, von dem ohnehin nur kindliche Gemüter spezifisches Gewicht erwartet hatten, doch Erstaunliches ans Licht beziehungsweise in die verhältnismäßig schwache Finsternis der Kinosäle, die für sie gewählt wurden und die nach Universum wie nach Untergrundbahn klingen: Urania, Metro. Gestern am späten Nachmittag: Die Königin, Regie: Werner Schroeter, ein Portraitfilm über Marianne Hoppe. Sie wurde im Film von sehr jungen, schönen und verschüchterten Schauspielerinnen befragt. Die Schüchternheit war nicht verschwendet, die Fragen, auf die es in diesem Fall nicht ganz so ankam wie bei gewohnten Interviews, wurden durch extremen Respekt vorgegeben und auch dementsprechend akzeptiert. Man bekam auch nicht den Eindruck, dass sie an einen Menschen in der Öffentlichkeit gerichtet waren. Noch weniger an eine Institution. Wer ihr Gesicht nicht nur sehen, sondern sich auch damit auseinander setzen konnte (man sah es zum Glück oft genug), verließ das Kino ziemlich hergenommen, mit einem Jetlag wie nach Rückflügen aus Vorder- oder Hinterindien: Schwindelgefühle. Zum Glück macht der frühe Oktoberabend den Kopf klar. Auf ähnliche Weise, nur etwas weniger selbstgewiss, wie das Gesicht von Marianne Hoppe. Fontane könnte diesem Gesicht gewachsen sein, wie er der Landschaft seiner Wanderungen, ihrer Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, gewachsen war. Auch ihren seltenen Überraschungsmomenten: die hellen Augen von Marianne Hoppe, der ziemlich kühle Blick, dazu die ebenso hellen, aber nicht weißen Haare, der perfekte Schnitt und die Souveränität des Halsausschnitts, der einiges preisgab. Diese Art von Preisgabe erinnerte fast an einige der wenigen zugegebenen Rückschläge während der Feldzüge Friedrichs des Großen. Kaum zu vermuten, dass sie ihr Alter als grausam empfindet. Sie glaubt offenbar auch an die zwar immer überschaubareren Naturkräfte, die dann doch so unüberschaubar und brutal werden können wie der tobende Gott des Alten Testaments. Das Wort "Gott" fiel nicht zu oft und doch etwas öfter und vertrauensvoller, als es diesem höchsten Wesen gemäß ist, dem anlässlich der Erschaffung der Welt unter anderem auch Joseph Goebbels gelungen ist, der während einer Rückblende kurz neben Marianne Hoppe auftauchte. Goebbels wirkt neben ihr blass und fast abhanden gekommen. Ganz anders als mit Gustaf Gründgens im Jahr 1939, wo man den strahlenden Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda im etwas zu hellen Anzug mit dem Staatsschauspieler Gründgens bewundern kann, der mit einem fast grimassenhaften Feixen Goebbels die dargereichte Hand gibt und zugleich - wie heute zum Beispiel in Wien bei Empfängen des Bundespräsidenten üblich - am Begrüßten vorbeischaut und dem vermutlich suspekten Mann neben Goebbels einen gut gelaunten und aufmunternden Blick schenkt. Der Senator für Wissenschaft und Kunst, Adolf Arndt, sagte auf der Trauerfeier für Gründgens in Berlin: "Das war in einem hintergründigen Sinn Gründgens' Widerspruch: hinter so vielen Masken niemandes Antlitz zu sein." Oder, wie Rilke es als Grabschrift für sich selbst bestimmte: "Niemandes Schlaf zu sein/ unter so viel Lidern." Ganz anders, absolut abweisend, das Gesicht der Marianne Hoppe. Wer Gründgens in Max Ophüls' Liebelei-Film mit Luise Ullrich und Magda Schneider gesehen hat, wird jede weitere Information über ihn dankbar aufnehmen und doch für unnötig halten. Keinesfalls unnötig ist aber die Art Marianne Hoppes, von "Gustaf" zu sprechen. Fast wie ein Kind vom Land über den unerreichbaren Dorfpfarrer: um zuletzt eben auf Gott und die Naturgewalten zurückzugreifen. Dabei halten wir oder will ich halten, in einem Wiener Kino sitzend: Gustaf Gründgens starb während einer Weltreise in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1960 in Manila. Bleibt zu hoffen, dass die Sternzeichen seines Sterbens ihm ähnlich gewogen bleiben wie der unglaublichen Marianne Hoppe ihr Gott. (Ilse Aichinger) (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.10. 2000)