Literatur
"The House of Mirth" - Malerische Wiederkehr
Ilse Aichingers Viennale-Tagebuch, Teil III
Auf der Kinoleinwand flammt der Titel auf, der Löwe von Metro Goldwyn Meyer knurrt vor sich hin, oder Anton Karas hat
wieder einmal zu früh den Dritten Mann
auf seiner Zither einzuleiten begonnen - man kommt zu spät. Zu spät zu Abstürzen,
Untergängen und Happy Ends jeden Kalibers. Das wäre keine Katastrophe, da auch Schiffsuntergänge im Kino leicht wieder
zu sich selbst gebracht werden. Aber
The House of Mirth
von Terence Davies zu versäumen käme einer mittleren Katastrophe
(und die mittleren Katastrophen sind die schlimmsten) schon um einiges näher.
Bei seinem Film behält man mit der naiven Vorstellung Recht, dass man, hätte man ihn nicht hier und heute gesehen, für
immer von ihm ausgeschlossen wäre. Ausgeschlossen von seinen Farben, seinen Konsequenzen und dem Witz seiner
Szenen, getrennt vom New York um 1900, dem Davies eine unglaublich malerische Wiederkehr schenkt.
Er schweift aus in die Landschaften Neu-Englands, in ihre Anmut, in ihren niemals hitzigen Farbenreichtum, zu ihren Küsten-,
Wald-, Brandungs- und Dünenfarben, um den Betrachter zu stärken, der, wie er, zum Unglück zurück will, zum Tatort, dem er
verfallen ist.
Lily, die für damalige Begriffe nicht mehr ganz junge Heldin, mit Gillian Anderson zusätzlich kühn besetzt, wäre ohne die an
verschiedenen Orten aufgefundenen Venusstatuen, auf versiegelten Burgen festgehaltenen Kreuzritterfrauen und auch ohne
Madame Bovary kaum denkbar.
Aber ihr Gesicht hebt sich nicht von den Tapeten der Normandie ab, sondern von den Tapeten New Yorks, seinen damaligen
Möglichkeiten, den bedrückend reichen Kulissen, denen sie sich zu Beginn noch einfügen will. Kompromisse, vorgefertigte
Frauenleben, Reichtum, auf den sie zuerst nicht verzichten will und auf den hin sie den Mann, den sie liebt, vergeblich prüft.
Ihre kaum verborgene Unsicherheit wächst, zugleich die Panik. Sie ist für die reichen New Yorker, deren Stil Henry James
beschrieb, vorerst ein interessanter Fall im heiratsfähigen Alter. Aber sie blockt ab. Sie will sie selbst sein, keine leichte
Beute. Was sie begreift, doch zuerst nicht recht begreifen will: dass alle Avancen der Männer auf eine Einvernahme zielen,
die bis zum Verlust der Identität reicht. Ein New Yorker Puppenheim, in welchem sich ihre Freundinnen tummeln, in der Stadt
noch viel oszillierender als auf Ibsens Landgütern.
Die Selbstverwirklichung - wer beherrscht diese bis zum Überdruss zitierte Kunst? Und wer ohne Geld? Auch ohne
erkennbare große Begabung. Lily erfährt nicht den Augenblick ihres Entschlusses, draußen zu bleiben, und wann er
unwiderruflich wurde.
Der Kunst Terence Davies' ist es zu verdanken, dass er diesen Augenblick verbirgt, dass er sie in ihren Untergang
hineinschlittern lässt. Freundlich und unaufhaltsam. Deshalb ist es keine Literaturverfilmung, keine von Edith Whartons
Roman, oder der Film ist es auf andere Weise: Davies filmt die Satzzeichen, das Unausgesprochene, die dunklen Flächen
zwischen den Zeilen. Flächen, die sich kräuseln wie die Wasserflächen, mit welchen Davies den Niedergang Lilys begleitet.
Sie schlittert hinein - aber nicht, wie die anderen, zu geborgten Sicherheiten bei reichen Männern, sondern in die
Gegenrichtung. Konsequent und auch wahnsinnig - für den, der Wahnsinn mit Nichtanpassung gleichsetzt.
Es ist eine Gesellschaft wie die auf der "Titanic", die wenige Jahre später, nicht weit von New York, zerschellt: reich,
selbstsicher, kalt. Man geht in die Oper - und hört ausgerechnet Così fan tutte: In einer Welt der Austauschbarkeit von
Personen und Beziehungen sucht Lily aber nach Unaustauschbarem. Den Börsenmakler, der ihr aus Schulden half, fragt sie,
bedrängt, ob er jetzt die Bezahlung in Naturalien einfordere: Wütend über die Verletzung des pervertierten comme il faut,
stößt Dan Aykroyd einen Stuhl gegen die Tür seines Herrenzimmers, um die Flucht zu verhindern.
Lily ist entschlossen, eine andere Ordnung in New York und im Jahre 1907 zu schaffen, und sie bleibt ein Kind dabei,
beschützt von wenig anderem als von der Pracht ihrer Hüte, die auf anderen Köpfen viel einverständlicher wirken als auf dem
ihren. Trotz der schönen Kostüme verfilmt Davies hier die Gegenwart: In einer Welt der Unredlichen will sie redlich bleiben, in
einer Welt, die auf Intrige aufbaut, sucht sie ihre gerade Linie, aber diese Linien sind gebrochen in den Prismen von starren
Gesellschafts- und verschwimmenden Wasserflächen. Auf der Titanic hätte Lily zu denjenigen gehört, die das Rettungsboot
verweigern. Lily: ein Michael Kohlhaas in New York.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. 10. 2000)