Premier Rishi Sunak beim Verlassen seines Amtssitzes.
Premier Rishi Sunak gab sich am Mittwoch gut gelaunt. Grund zum Optimismus hatte er vor den Kommunalwahlen allerdings kaum.
AFP/ADRIAN DENNIS

Wer in West Bromwich nahe Birmingham nach "Andy Street" fragt, beschwört leicht ein Missverständnis herauf. "Sorry, diese Straße kenne ich nicht", heißt es dann, ehe sich der Irrtum aufklärt: Es geht gar nicht um die Geografie des Großraums rund um die zweitgrößte englische Metropole, sondern um dessen Verwaltung und Zukunftsgestaltung. Seit 2017 ist dafür Andy Street zuständig, zuvor lange Jahre Geschäftsführer der legendären Einzelhandelskette John Lewis. Vom Schicksal des schlanken "Metro Mayor for the West Midlands", wie Streets offizieller Titel lautet, hängt vieles ab – womöglich sogar die Zukunft des konservativen Premierministers Rishi Sunak.

Der Regierungspartei werden schlimme Verluste vorhergesagt, wenn am Donnerstag Millionen Wähler in England ihre Kommunalvertreter neu bestimmen. Rund 2500 Sitze stehen insgesamt zur Wahl; den Tories sagen die Demoskopen den Verlust von rund der Hälfte ihrer bisher knapp tausend Sitze voraus. Neun sogenannte Metro Mayors – eine Art Mischung aus Bezirkshauptmann und Polizeiaufseher – stehen zur Wahl, hinzu kommt der Londoner Bürgermeister. Schließlich steht den Konservativen auch der Verlust eines Unterhausmandats in Blackpool bevor, wo der örtliche Tory-Abgeordnete wegen eines Lobbyismusskandals zurücktreten musste.

Eigentlich geht es natürlich um das Mitspracherecht bei Verkehrsberuhigung, Müllabfuhr und Gewerbegebieten, im Fall der Metro Mayors auch um die langfristige Regionalplanung. Und wie immer bei Kommunalwahlen werden auch diesmal viele Wählerinnen und Wähler den Urnengang als Denkzettel für die Regierungspartei verwenden. Deren Ausgangslage ist denkbar schlecht: In allen Umfragen liegt die größte Oppositionspartei Labour um rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen – "ein gewaltiger und seit Monaten anhaltender Vorsprung", sagt Politikprofessorin Sara Hobolt von der London School of Economics (LSE). 68 Prozent zeigen sich mit der Regierung unzufrieden. Als wichtigste Themen der Wählerschaft hat Hobolt die Wirtschaft, das Gesundheitssystem und die Einwanderung ermittelt. Auf allen drei Gebieten sieht die Regierung nicht gut aus.

Auf Distanz zur eigenen Partei

Weil sie die Umfragen natürlich ebenfalls lesen können, haben sich überall im Land konservative Kandidatinnen und Kandidaten von ihrer Partei distanziert. Ob Susan Hall in London, Keane Duncan in York oder eben Andy Street im Großraum Birmingham – Flugblätter und Onlineanzeigen kommen meist ohne das traditionelle Tory-Blau aus, auch Schriftzug und Logo der immerhin 190 Jahre alten Partei sind nirgendwo zu sehen. "Sollte Street gewinnen, liegt das gänzlich daran, dass er mit seiner Persönlichkeit die Nachteile der Partei aufwiegen kann", hat Luke Tryl von der Organisation More in Common den Gesprächen mit Fokusgruppen entnommen.

Ähnlich ist der Wahlkampf von Lord Ben Houchen verlaufen, den hemdsärmeligen Metro Mayor der nordostenglischen Region Teesside, um deren Freihafen sich allerlei zwielichtige Geschäftsleute tummeln. Gemeinsamen Auftritten mit dem Premierminister gingen die Kandidaten vorsichtshalber aus dem Weg. "Die Bürgermeister, an die er sein Überleben knüpft, wollen in seiner Nähe nicht einmal gesehen werden", höhnte deshalb Labour-Oppositionsführer Keir Starmer am Mittwoch im Unterhaus.

Knüpft tatsächlich Sunak sein Überleben an Street und Houchen, oder tun das nicht vielmehr die üblichen Kritiker des Premierministers wie seine gescheiterte Vorgängerin Liz Truss? Düster munkeln Angehörige des rechten Flügels der Tory-Fraktion von einem neuerlichen Putschversuch gegen ihren glücklosen Anführer. Dies wiederum hat die ohnehin eifrig betriebene Spekulation über den Termin der nächsten Unterhauswahl nochmals angeheizt.

Parlamentswahl im Herbst?

Dabei bleibt die Faktenlage im Wesentlichen dieselbe: Es wird ein Donnerstag sein, und bestimmen darf den Tag der Premierminister. Sunak redet seit langem von "der zweiten Jahreshälfte". Weil auch die Briten im Sommer gern Urlaub machen und im September die großen Parteien ihre Parteitage veranstalten, gilt seit langem eine Wahl im Oktober oder November als plausibelste Variante. Das hindert die zahlreichen selbsternannten Fachleute nicht an fröhlichen Spekulationen.

So war vergangene Woche völlig grundlos plötzlich von einer Wahlankündigung zu Wochenbeginn die Rede, als würde Sunak allen Ernstes die anstehenden kommunalen Wahlgänge torpedieren. Viel eher Sinn machen würde der Gedanke, dass der schwer angeschlagene Regierungschef seiner Fraktion alle Gedanken an Rebellion austreibt, indem er Anfang Juli zur Wahl bittet. Aber auch diese Idee halten altgediente Kenner der Verhältnisse wie Brexit-Buchautor Tim Shipman (All Out War) für extrem unwahrscheinlich: "Zu 90 Prozent im Herbst" lautet seine Prognose.

Ähnlich eindeutig sehen Demoskopen die Wahlchancen von Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan, der sich um eine dritte Amtszeit bewirbt. Eine Niederlage des 53-Jährigen käme einer Sensation gleich, die alle schlechten Tory-Ergebnisse in den Schatten stellen würde. Doch dieser Sunak-Traum wird ein Traum bleiben. Mag Khan auch bei der Wählerschaft nicht sonderlich beliebt sein, zumal er Autofahrerinnen und -fahrer gegen sich aufbringt – der Vorsprung auf seine kaum bekannte, Brexit- und Trump-begeisterte Konkurrentin Susan Hall scheint zu groß. (Sebastian Borger aus London, 2.5.2024)