Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit 3.0.

Cartoon: Michael Murschetz

Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey bezeichnet die Zeit, in der wir leben, als "regressive Moderne", und schon vor Jahren hat der britische Publizist Ferdinand Mount in seinem Buch "Full Circle" die These formuliert, dass die Gesellschaft wieder am Ausgangspunkt einer tausende Jahre dauernden Entwicklung angekommen sei. Doch das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Was gestern gegolten hat, ist heute meist überholt – allerdings: Wenn das Pendel der Geschichte innerhalb seiner "longue durée" zurückschwingt, so sehen wir immer wieder neue Variationen alter, bekannter Themen (z. B. als Esoterik, wie Christoph Prantner beschreibt).

So scheint sich unsere Gesellschaft auch wieder mehr und mehr von den aufklärerischen, Kant'schen Idealen zu verabschieden: Immer seltener gilt es als erstrebenswert, "sich seines Verstandes zu bedienen" oder gar Vernunft als Erkenntnisprinzip einzusetzen. Im Gegenteil: Erfahrungen, Erlebnisse und Emotionen werden nun als leitende Prinzipien vorangestellt.

Eine "neue Empfindsamkeit" (oder nur: Empfindlichkeit?) hält Einzug und in ihrem Gefolge ein neuer Narzissmus. Dieser zieht die Autorität der ersten Person jener der Argumentation vor – was in der von Matthias Dusini und Thomas Edlinger anschaulich beschriebenen "Opfersemantik" zum Ausdruck kommt.

Mehr denn je steht der Mensch als "Maß aller Dinge" im Mittelpunkt. Doch nicht als aufgeklärtes, vernunftbegabtes, sondern als aufgescheuchtes, verletzliches Wesen. Und über weite Strecken haben wir uns daran gewöhnt. Denken wir nur an unsere Rolle als Kunde, mit der unsere Zufriedenheit und damit unsere Gefühlslage als Maßstab für die Qualität von Autobahntoiletten und Arztpraxen, Hotels und Hochschulen herangezogen wird: Management fußt auf Emotion, nicht auf Vernunft – ganz im Sinne jenes Zeitgeistes, der sich in der Rolle des Kunden gefällt und der die damit verbundene (vermeintliche) Wertschätzung durch das Marketing genießt.

Unterstützung erfährt all dies von jenem Moralismus, der eine antiaufklärerische Ausprägung aktueller "Denkfaulheit" darstellt, wie sie Peter Manteuffel kürzlich hier beschrieben hat. So werden Sachverhalte sowohl dem modernen Imperativ des Managements als auch einer eigentümlich prämodernen Ideologie der Moral unterworfen – ganz gleich, was die Vernunft dazu zu sagen hätte: Eine narzisstische Moral der Gefühle dient als leitendes Prinzip für das normative Management der Gesellschaft.

Dies wiederum treibt paradoxe, quasi "postmoderne" Blüten: Beispielsweise wenn die Auseinandersetzung zwischen dem Fortschrittsglauben und der Fortschrittsskepsis, die über lange Zeit mit modernen Mitteln und in der Tradition der Aufklärung geführt wurde (man denke an Wissenschaftsforschung), jetzt Konkurrenz bekommt in Gestalt einer geradezu antiaufklärerischen Korrektur der Moderne mit vormodernen Kategorien der Moral. Wohl nicht nur die Wissenschaft beobachtet mit Sorge die Gefährdung des lange Zeit außer Streit gestandenen Primats von Vernunft und Rationalität.

Abzulesen ist dies an den auf die Mobilisierung moralisierender Emotionen abzielenden Debatten über Migration und Integration, über Kopftuch- und Rauchverbot, u. v. a.: Das ist wahre Brutalität, brutaler als "Kapfenberg gegen Simmering" einst bei Helmut Qualtinger. Zumindest aus der Perspektive einer Vernunft, die analytische und argumentative Auseinandersetzung scheinbar einfachen Lösungen in Form präskriptiver Prinzipien vorzieht.

Vielleicht ist es eine Ironie der Geschichte und der gesellschaftlichen Evolution, dass gerade sozialtechnologische Entwicklungen wie die Ablöse alter administrativer Strukturen durch den modernistischen "Managerialismus" zwar auf den ersten Blick einer stetigen Wachstumskurve folgen, in Wirklichkeit aber auf einen "tipping point" (so der Titel eines Buches von Malcolm Gladwell) zusteuern. Sollte dieser Punkt erreicht sein, so können die vielerorts diagnostizierten regressiven Tendenzen wohl kaum mehr überraschen: Während ein wachsender Teil der Gesellschaft ungeniert die Errungenschaften der Moderne sowie des sozialen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritts (z. B. soziale Medien) nutzt, sägt er zugleich am Ast, auf dem wir alle sitzen – und beruft sich dabei auf Moral. Unermüdlich unterminiert er die Fundamente alteuropäischer Gesellschaftsmodelle und erteilt damit den Errungenschaften der Aufklärung eine klare Absage.

Versagen des Managertums

Ob darin eine Chance liegt, angesichts der düsteren dialektischen Diagnose von Horkheimer und Adorno, wonach "die vollends aufgeklärte Welt im Zeichen triumphalen Unheils strahlt"? Immerhin erleben wir seit Jahrzehnten das triumphale Versagen des Managerialismus und seit Jahrhunderten jenes des Moralismus. Deshalb mag es überraschen, wenn zur Korrektur "mehr desselben", also: mehr Management und mehr Moral propagiert wird.

Angesichts solcher historischer Pendelbewegungen stellt sich die Frage, wie sich eine Balance zwischen aufklärerischer Vernunft und Fortschrittsfetischismus einerseits sowie antiaufklärerischer Empfindlichkeit samt moralisierender Erregungs- und Empörungshysterie andererseits finden lässt. So viel dürfte zumindest feststehen: Toleranz im Umgang mit Ambiguität und Frustration im Sinne von Jürgen Habermas ist dabei nicht "für A und F". (Paul Reinbacher, 20.4.2018)