T. S. Orgel: "Terra"
Broschiert, 508 Seiten, € 15,50, Heyne 2018
Einen gewagten Genrewechsel haben Tom und Stephan (alias "T. S.") Orgel hier vollzogen: Das Brüderpaar aus Deutschland begann seine Karriere in der Spätphase der berühmt-berüchtigten "Völkerromane"-Mode in der Fantasy mit der Trilogie "Orks vs. Zwerge"; darauf folgte mit "Die Blausteinkriege" eine weitere Trilogie. Mit "Terra" wechseln sie nun nicht einfach nur von der Fantasy in die Science Fiction, sondern just in die Mundane SF – also jenes Subgenre, in dem nur das zumindest theoretisch Machbare erlaubt ist und auf sämtliche quasi-magische Supertechnologie verzichtet werden muss. Keine leichte Aufgabe, doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und das Risiko hat sich gelohnt.
Ein kurzer Überblick
Ende des 21. Jahrhunderts lebt man auf der Erde zwar nicht im Elend, doch musste dafür der erwartbare Preis bezahlt werden: Umweltzerstörung und Klimawandel sind weit vorangeschritten; nach einer Welle von Katastrophen zeigen sich zur Romanzeit gerade zaghafte Anzeichen dafür, dass es langsam wieder besser wird. Eine maßgebliche Rolle dafür spielen Rohstofflieferungen aus dem Sonnensystem, das man zu erschließen begonnen hat.
Eine zentrale Stellung nimmt dabei der Erdmond ein, der vom Rohstoffboom mitsamt all seinen Folgeerscheinungen geprägt ist. In den lunaren Kuppelstädten und dem sie verbindenden Tunnelsystem – der buchstäblichen Unterwelt von "Chinatown" – wimmelt das Leben, zum Guten wie zum Schlechten. Die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität sind in diesem Schmelztiegel äußerst fließend. Wir lernen die zwischen Kreativität und Verbrechen pendelnde Mond-Gesellschaft aus den Augen von Space Marshal Sal Zhao kennen, einer der zwei Hauptfiguren des Romans.
Die Dinge kommen ins Rollen
Im Prolog des Romans hat eine Raumfahrerin entdeckt, dass irgendetwas mit ihrer Fracht nicht stimmt. Kurz darauf wird sie offensichtlich von ihrer eigenen Technik sabotiert und kommt zu Tode. Das gleiche Schicksal könnte nun auch der zweiten Hauptfigur des Romans drohen, Sals Bruder Jak, der sich als Weltraumtrucker verdingt. So nennt man die Einmann-Crews der riesigen Transportschiffe, die die begehrten Rohstoffe zur Erde verfrachten. Trucker sind im Zeitalter der Automatisierung für den letzten Rest an Tätigkeiten zuständig, die man besser von einem flexibel denkenden Menschen als von Software abwickeln lässt. Nichtsdestotrotz stellen sich die Trucker mitunter die Frage, ob sie nicht vielleicht bloß glorifizierte Saftschubsen sind.
Jak hat sich mit anderen Truckern aus aller Herren Länder zu einem interplanetaren Konvoi zusammengeschlossen, als er entdeckt, dass seine Fracht fehldeklariert ist und er sogenannte Darwinsonden an Bord hat. Das sind hochexplosive Pakete aus komprimierten Treibhausgasen und Mikroben, mit denen man den Mars terraformieren möchte. Bei bereits lebensfreundlichen Zielen würden sie sich hingegen verheerend auswirken, sie werden nicht umsonst als "Terraformingbomben" beschrieben. Nun gilt es herauszufinden, wer die Bomben eingeschmuggelt hat, was er damit bezweckt und wie er sich aufhalten lässt.
Sal und Jak gehen der Verschwörung nach, durch Lichtminuten voneinander getrennt. Sal hat dabei noch den Vorteil, dass sie sich mit Fäusten und Schusswaffen ins Gewühl schmeißen kann, wenn ihre Ermittlungen mal wieder einen Twist ins Brisante vollzogen haben. Jak und seine Truckerkollegen hingegen können nur heimlich vorgehen. An Bord der Schiffe herrscht eine Atmosphäre der Beklemmung, die Raumfahrer fühlen sich – zu Recht, wie ihre arme Kollegin aus dem Prolog zeigte – dem unsichtbaren Feind ausgeliefert. Da heißt es erfinderisch sein. Wenn sie die normale Schiffstechnologie umgehen und sich per gutem altem Funk untereinander austauschen, steigen übrigens Erinnerungen an den 70er-Jahre-Film "Convoy" auf ...
Zweiter Bildungsweg
In der Danksagung schreiben die beiden Autoren, dass sie für ihren Wechsel in die SF erst mal recherchiert haben – und das merkt man auch. Fun Facts wie die Frage, warum die Durchschnittsbreite eines Pferdearschs aus der Römerzeit selbst in der Raumfahrtära noch eine Rolle spielt, hätte sicher auch ein Andy Weir gerne in sein "Artemis" eingebaut, das "Terra" von Setting und Feeling her nah verwandt ist.
Mitunter trägt der Roman, was Wissenswertes zur Welt und deren Geschichte betrifft, ein wenig Übergepäck. Beispiel: Als Sal in einem Fluchtwagen aus einer brisanten Situation entkommt, werden Infos über den Trend weg von manuellen Lenksystemen eingestreut, gefolgt von der Auswirkung dieses Trends auf die Unfallstatistik, gefolgt von einer Reminiszenz an Sals erste Fahrstunden. Und gleich auf der nächsten Seite kommt ein zweiter Durchgang: Hintergrundwissen zur Bewaffnung der Space Marshals, gefolgt vom Effekt sogenannter Stun Guns, gefolgt von einer Erinnerung daran, wie Sal mal mit einer Stun Gun fischen ging. Das ist eh alles schön und gut, aber jetzt ist nicht der Moment dafür, wir befinden uns immer noch mitten in einer wilden Verfolgungsjagd.
Die Technik lügt
Aber wie es in Fußball-Talks so schön heißt: Das ist Jammern auf hohem Niveau. In "Terra" sitzt neben der Spannung auch die Plausibilität; ganz, wie man es von Mundane SF erwarten muss. Und darüber hinaus – da sind wir schon im Bereich der Zusatzgratifikationen – hat der Roman auch noch ein schönes Leitmotiv: Trau deinen Augen nicht.
Das schmuggeln die beiden Autoren immer wieder ein. Manchmal in ganz harmlosem Kontext, etwa wenn erwähnt wird, wie den Mondbewohnern für ihr Seelenheil idyllische Landschaften an die Wände projiziert werden. Schon etwas ambivalenter wird's, wenn Jak über die Sensoren und Monitore seines Raumschiffs ein simuliertes Weltraumgefecht laufen lässt (ähnlich der "Star Trek"-Szene, in der Michael Burnham die Verhältnisse an Bord der "USS Discovery" kennenlernt). Und tödliche Brisanz erreicht es, wenn die Trucker argwöhnen müssen, dass die Anzeigen ihrer Bordsysteme von jemandem manipuliert worden sind. Das sind lauter Details, die motivisch auf einen Plot um eine unsichtbare Verschwörung vorbereiten: Geschickt gemacht!
"Terra" kurz zusammengefasst: ein rundum gelungener Genrewechsel von T. S. Orgel.