Protestierende Bürger machen Präsident Erdogan erfahrungsgemäß wenig Freude.

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Die Türken gelten als leiderfahren und inflationserprobt, was Wirtschaftskrisen betrifft. Vielen ist die Inflation von 90 Prozent um die Jahrtausendwende noch in allzu schlechter Erinnerung. Und so ist es immer wieder erstaunlich, mit welchem Gleichmut viele Bewohner Istanbuls auf die aktuelle Wirtschaftskrise und vor allem auf die stark steigenden Preise reagieren. Die Inflation liegt offiziell bei 21 Prozent. Einzelne Lebensmittel aber haben sich in den vergangenen Monaten sehr viel drastischer verteuert. Vor allem der um 150 Prozent gestiegene Zwiebelpreis hatte jüngst viele Türken heftig erbost.

Am vergangenen Wochenende kam es aber nun erstmals zu einer Demonstration, die vor allem wirtschaftlich motiviert war. Im Istanbuler Stadtteil Bakirkoy sind am Samstag rund 8000 Menschen auf die Straße gegangen, um für eine Anhebung des Mindestlohns zu demonstrieren. Aufgerufen hatten dazu Gewerkschaften, Berufskammern und linke Gruppierungen.

Forderung nach Verdoppelung des Mindestlohns

Der Mindestlohn in der Türkei liegt derzeit bei etwas über 1400 türkische Lira. Das sind im Moment etwa 220 Euro. Mit dem starken Preisanstieg der vergangenen Monate ist ein Überleben für die Bürger damit nur noch sehr schwer möglich. Die Demonstranten forderten deswegen eine Verdoppelung des Mindestlohns auf 2800 Lira.

Für Erdogan sind diese Entwicklungen durchaus bedrohlich, da im kommenden März Kommunalwahlen anstehen. Bisher war der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei immer ein Garant für die Wiederwahl der AKP. Eine Rezession könnte das ändern. Immer wieder hatte der türkische Präsident wohl auch deswegen die Proteste der französischen Gelbwesten mit den Gezi-Demonstranten in Verbindung gebracht.

Präsidiale Drohung

Mehrfach hatte Erdogan in den vergangenen Tagen vor ähnlichen Protesten gewarnt und scheute dabei auch vor eindeutigen Drohungen nicht zurück. In einem Artikel in der regierungsnahen Zeitung Takvim war zu lesen: "Diejenigen, die von Gelbwesten in der Türkei träumen, werden in gelben Röcken enden" – eine herabwürdigende Drohung, Männer könnten durch das Tragen von Röcken erniedrigt werden.

Die Türkei droht im kommenden Jahr in eine Rezession abzugleiten. Hintergrund ist die Finanzkrise, die im Sommer dieses Jahres ausgelöst worden war. Da sich Ankara geweigert hatte, den amerikanischen Pastor Andrew Brunson freizulassen, der wegen abstruser Terrorismusvorwürfe im Gefängnis saß, verhängte Präsident Trump Strafzölle gegen das Land. Es waren jedoch weniger die Zölle als der daraufhin einsetzende Kapitalabzug, der großen Schaden anrichtete. Die türkische Lira verlor innerhalb weniger Wochen rund 40 Prozent ihres Wertes. Da vor allem türkische Unternehmen hohe Kredite in US-Dollar und Euro aufgenommen hatten, stieg deren Zinslast rasant an, und brachte einige von ihnen in Zahlungsschwierigkeiten. Durch die fallende Lira verteuerten sich aber auch Importe, was zu einem starken Preisanstieg führte. Die Inflation kletterte daraufhin im November auf über 25 Prozent.

Der Kurs der Lira hat sich mittlerweile wieder erholt. Bekam man im Sommer für einen Euro zeitweise bis zu acht türkische Lira, sind es heute etwa sechs. Aufgrund der steigenden Zinsen in den USA und der hohen Inflation bleibt aber der Abwertungsdruck bestehen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht deshalb im kommenden Jahr von einer Rezession aus.

Für Aufregung sorgte auch der Fernsehmoderator Fatih Portakal, der in einem Beitrag über die Gelbwesten sagte, ein solcher friedlicher Protest sei ein natürliches Recht der Menschen, könne aber in der Türkei nicht stattfinden, weil die Leute Angst haben.

Maß halten

Erdogan antwortete daraufhin: "Halte Maß, sonst wird dir das Volk einen Schlag in den Nacken versetzen." Er sprach von einer "Mandarine, Orange, Zitrusfrucht". Portakal bedeutet auf Türkisch Orange. Seitdem kursieren in den sozialen Medien in der Türkei zahlreiche Anspielungen auf den Vitamingehalt der Frucht.

Bei den Gezi-Protesten im Frühjahr 2013 waren Tausende von jungen, liberalen Türken aus der Mittelschicht auf die Straße gegangen, um gegen den autoritären Kurs zu demonstrieren. Die Proteste wurden teils brutal niedergeschlagen. Sieben Demonstranten und ein Polizist kamen dabei ums Leben, über 8000 wurden verletzt. (Philipp Mattheis, 23.12.2018)