Die Übergänge an der US-mexikanischen Grenze (hier bei San Ysidro) sind hochfrequentiert. Experten zufolge hat sich der bilaterale Handel durch das Nafta-Abkommen verfünffacht.

Die Schlange am US-mexikanischen Grenzübergang bei Tijuana beginnt um fünf Uhr morgens und hält bis nach neun Uhr abends an. Autos, Fußgänger, Lastwagen – es ist beeindruckend, was jeden Tag von einer Seite auf die andere wechselt: Arbeitspendler und Touristen ebenso wie kirchliche Hilfsgüter oder Elektrogeräte und Autozulieferteile. Waren im Wert von 1,5 Millionen Dollar überqueren täglich die US-mexikanischen Grenzübergänge, die 23 Jahre nach Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) zu Nadelöhren des Welthandels geworden sind.

Kann man eine solch enge Verflechtung zerschlagen, ohne selbst Schaden zu nehmen? Wenn es nach US-Präsident Donald Trump geht, dann schon. Ihm liege nichts an Nafta, und wenn Mexiko die US-Bedingungen nicht schlucke, trete er eben aus, verkündete er vor Beginn der Neuverhandlungen, die am Freitag in die zweite Runde gingen und bis Dienstag dauern.

Doch Mexiko, das anfangs vor dem burschikosen Nachbarn kuschte, tritt nun deutlich selbstbewusster auf. Das sei eine Verhandlungsstrategie, wiegelte Außenminister Luis Videgaray ab. Man werde Nafta aber nicht um jeden Preis retten, Mexiko habe einen Plan B und sei auch unter den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) wettbewerbsfähig, betonte Wirtschaftsminister Ildefonso Guajardo.

Gegenseitiges Aufrechnen

Trump stört sich am Handelsdefizit mit Mexiko und ist der Meinung, die Integration habe der heimischen Industrie geschadet, weil Mexiko mit seinen Niedriglöhnen illoyal Konkurrenz mache. Zweifellos hat Mexiko von Nafta profitiert. Der Sprung von einer rohstoffexportierenden Volkswirtschaft zum Manufaktur- und Dienstleistungsland gelang dem Land besser als seinen lateinamerikanischen Nachbarn.

Dank Freihandels, billiger Löhne und Steuervorteilen hat es sich etwa zum viertgrößten Autoexporteur weltweit entwickelt, 675.000 Arbeitsplätze hängen an der Industrie. Doch ein Industriearbeiter in Mexiko verdient gerade einmal acht US-Dollar die Stunde, in den USA ist es fünfmal so viel.

Verlängerte Werkbank der USA

Experten zufolge profitieren davon aber beide. Die US-Autoindustrie sei erst durch Nafta wieder wettbewerbsfähig geworden, halten sie dagegen. Und auch der US-Konsument profitiert: Würde Trump wie angedroht einen 35-prozentigen Strafzoll einführen, würde jeder Neuwagen in den USA um 3000 Dollar teurer. Ohne Mexiko als verlängerte Werkbank könnten US-Marken der asiatischen Konkurrenz schon lange nicht mehr standhalten, so der liberale Ökonom Luis Pazos.

Es ist also nicht so einfach mit dem gegenseitigen Aufrechnen, wie sich auch in anderen Sektoren zeigt. Etwa bei der Landwirtschaft. Erst knarzte die auf kleinbäuerlichen Betrieben basierende mexikanische Landwirtschaft sehr unter Nafta. Grundnahrungsmittel wie Mais werden inzwischen größtenteils aus den USA importiert, wo gentechnisch verändert und industriell angebaut und subventioniert wird. In anderen Sektoren aber, wie etwa bei Limonen, Mangos, Avocados und Beeren, hat Mexiko die Nase vorn. Gewinner und Verlierer gibt es also auf beiden Seiten. An 26 Tischen in fünf Verhandlungsrunden werden nun Lasten und Vorteile neu verteilt. Wenig ist über Details bekannt, die Verhandler haben Stillschweigen vereinbart.

Anhebung des Mindestlohns

Was durchsickerte, ist, dass die USA das Kapitel 19 loswerden wollen, das Schiedsgerichte für Handelsstreitigkeiten vorsieht. Außerdem soll der Anteil regionaler Komponenten angehoben werden. Bei Autos liegt er derzeit bei 62,5 Prozent, bei anderen Elektronikartikeln bei fünf bis sieben Prozent. Davon könnte auch Mexiko profitieren, wenn es dies zur Förderung heimischer Experten und Zulieferer nützt. Themen wie Energie, E-Commerce und Telekommunikation, die ursprünglich gar nicht in Nafta aufgenommen wurden, sollen nun Eingang finden – daran haben auch Mexiko und Kanada Interesse. Die US-Regierung will Mexiko dazu drängen, den Mindestlohn anzuheben und Abwertungen zu unterlassen. Mexiko wiederum will von den USA ein umfassendes Kontingent von Arbeitsvisa, um den Migrantenstrom zu regulieren.

Jenseits von Nafta liegt für den nächsten mexikanischen Präsidenten, der im kommenden Jahr gewählt wird, die Herausforderung darin, das Land gleichmäßiger zu entwickeln, sagt Alberto Arroyo von der Staatlichen Autonomen Universität (Unam). "Obwohl sich der bilaterale Handel verfünffacht hat, profitieren davon nur 400 von sieben Millionen mexikanischen Firmen." Die Gehälter seien im Schnitt um 65 Prozent gesunken, deshalb habe sich die Armut, die bei 43 Prozent liegt, kaum verringert.

"Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist kaum gestiegen, denn die Gewinne aus Nafta gehen nur an wenige oder werden von transnationalen Konzernen auf ausländische Konten verschafft", kritisiert Arroyo, der dem Netzwerk gegen den Freihandel angehört. Bestes Beispiel ist ihm zufolge der Automobilsektor: Mexiko exportiere zwar massenweise Autos, habe selbst aber keine nationale Marke. (Sandra Weiss aus Mexiko-Stadt, 4.9.2017)