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Demonstrationszug von Mitarbeitern des Stahlkonzerns Arcelor Mittal in Marseille. Wie umgehen mit den Globalisierungsverlierern? Diese Frage beschäftigt die Politik derzeit in vielen Ländern.

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STANDARD: Globalisierungsverlierer gehören entschädigt: Diese Forderung ist derzeit ständig zu hören. Den Wahlsieg Donald Trumps und das Brexit-Votum deuten viele Experten als einen Protest der Abgehängten. Aber wie entschädigt man Globalisierungsverlierer?

Südekum: Das ist eine Frage, mit der sich Ökonomen lange Zeit nicht beschäftigt haben, zu der es extrem wenig Forschung gab. In den Lehrbüchern der Universitäten wird seit 70 bis 80 Jahren das Dogma verbreitet, demzufolge Globalisierung gut ist, weil sie dafür sorgt, dass der Wohlstandskuchen für die Gesellschaft größer wird. Es wird zwar anerkannt, dass es Verlierer in einzelnen Sektoren gibt. Die Verlierer der Globalisierung müssen aber von den Gewinnern bloß ein Tortenstück abbekommen, und schon profitieren alle, so die Theorie. Aber wie das gehen kann, darüber stand in den Lehrbüchern nichts.

STANDARD: Gar nichts?

Südekum: Ein Lösungsvorschlag lautete, auf monetäre Transfers zu setzen. Globalisierungsverlierer sollen bildlich gesprochen Schecks aus Berlin, Washington oder Wien bekommen. Es ist offensichtlich, dass das nicht reichen wird. Der Globalisierungsschock und der technische Wandel in der Industrie treffen in der Regel Menschen, die voll im Arbeitsleben stehen. Der typische Industriearbeiter steht in der Einkommenspyramide nicht unten, sondern in der Mitte. Diese Menschen in der Mittelschicht wollen keine finanziellen Zuwendungen, kein Hartz IV. Sie wollen nach einem Arbeitsplatzverlust neue Perspektiven. Daher ist in jüngerer Zeit eine neue Idee aufgekommen: Um mit Freihandelsschocks umzugehen, soll wieder auf aktive Arbeitsmarktpolitik gesetzt werden, Währungsfonds und Weltbank sprechen von Trade-Adjustment-Assistance.

STANDARD: Was ist das?

Südekum: Solche Assistenzprogramme gibt es schon in den USA und in der EU. Von den Volumina ist das aber angesichts der Probleme lächerlich gering. Allein in den USA sind in den Jahren 2000 bis 2014 fünf Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen, gut eine Million wegen gestiegenen Handels mit China, der Rest wegen neuer Technologien. Die Idee mit den neueren, aufgestockten Assistenzprogrammen ist, mehr Geld für Umschulungsprogramme und Training auszugeben. Das Problem ist, dass die regionalen Komponenten dabei nicht genug beachtet werden.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Südekum: Wenn ein Land einen Wirtschaftssektor für ausländische Mitbewerber öffnet, treffen die negativen Konsequenzen meist ganz spezifische Regionen. Auf einen Schlag löst Handel eine schwere lokale Rezession aus, auf einmal kämpfen viele Menschen in einer Gemeinde mit dem gleichen Problem. Wir wissen, Menschen sind sehr immobil. Besonders der typische Industriearbeiter ist nicht bereit umzuziehen, wenn er gerade ein Haus gekauft hat, seine Freunde im Umkreis wohnen, er sein Leben lang immer am selben Ort gewohnt hat. Allein mit Qualifizierungsmaßnahmen wird man nicht Herr des Problems werden, denn irgendwie müssen ja adäquate Arbeitsplätze geschaffen werden.

STANDARD: Ausbildung allein hilft nichts – was muss geschehen?

Südekum: Ausbildung ist ein Puzzlestein. Aus einem Schneider einen Webdesigner zu machen wird nicht in jedem Fall gelingen. Wichtig ist es, nicht nur das Angebot, sondern auch die Nachfrage anzuheben. Nötig ist Regionalpolitik.

STANDARD: Wie soll das aussehen?

Südekum: Bei Regionalpolitik werden in einem ersten Schritt Gebiete ausgewiesen, die stark von Transformationen getroffen worden sind. Für diese Regionen gibt es besondere Fördertöpfe. Unternehmer können daraus Subventionen erhalten, wenn sie sich dort ansiedeln oder Arbeitsplätze schaffen. Das funktioniert mal schlechter, mal besser. Das andere ist der Infrastrukturausbau: Es muss versucht werden, den Verfall aufzuhalten. Dazu kann man dort etwa neuere und bessere Schulen errichten oder öffentliche Einrichtungen gezielt in den Problemregionen ansiedeln, um nur einige Beispiele zu nennen. Es geht darum, eine Abwärtsspirale, bei der eine ganze Region verfällt, gar nicht entstehen zu lassen. Bilder, wie man sie aus Detroit oder ein Stück weit aus Gelsenkirchen kennt, würde es damit hoffentlich nicht mehr geben.

STANDARD: Sind Ökonomen mit schuld daran, dass Globalisierungsproblemen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde? Die Theorie war ja lange: Sogar Menschen, die wegen des Freihandels ihren Job verlieren, finden später höherwertige Arbeitsplätze.

Südekum: Das ist richtig. In Deutschland zum Beispiel hat die Bekleidungs- und Schuhindustrie in der Südwestpfalz massiv unter der Öffnung gegenüber China gelitten. Die ökonomische Theorie hätte besagt, dass der Textilarbeiter, der seinen Job verliert, in einer Automobilfabrik in Bayern unterkommt. Meine Kollegen und ich haben unzählige Erwerbsbiografien in Deutschland angeschaut und diese mit Handelsdaten verglichen. Wir haben festgestellt: Dieser Anpassungsprozess an die Globalisierung, den gibt es nicht, das ist eine Fata Morgana. Was tatsächlich passiert ist, ist, dass der Freihandel im Textilsektor ankam, sehr viele Menschen verloren ihren Job. Sie sind typischerweise erst mal längere Zeit arbeitslos geblieben. Wenn der Wiedereinstieg geglückt ist, war das nicht in den expandierenden Exportsektoren, sondern im niederwertigen Dienstleistungsbereich. Überspitzt formuliert landeten die Globalisierungsverlierer bei McDonald's an der Kasse.

STANDARD: Globalisierung bedeutet, dass Kapital mobiler wird, es sich leichter der Besteuerung entziehen kann. Ist es in dieser Welt möglich, Verlierer zu kompensieren?

Südekum: Wenn das mit der Verliererkompensation funktionieren soll, muss man die Gewinner besteuern. Wenn sich die Gewinner aber entziehen, etwa indem sie ihr Kapital in Steuerparadiese schaffen, klappt das nicht. Das ist ein großes Problem.

STANDARD: Ist Deutschland nicht der Gewinner der Globalisierung par excellence mit seinen gewaltigen Exportüberschüssen?

Südekum: Zu glauben, der Exportüberschuss ist ein Ausweis von Stärke, ist ein Missverständnis.

STANDARD: Warum?

Südekum: Der Exportüberschuss entsteht, weil Deutschland deutlich mehr ausführt, als wir im Gegenzug Waren einführen. Auf die hohen Exporte mag man stolz sein. Aber warum soll man stolz darauf sein, dass man sich mit dem Geld, das man im Ausland verdient, nichts Schönes leistet? Wir exportieren auf Pump. Wir kriegen nicht genug reale Güter im Gegenzug, sondern Schuldscheine. Deutschland hat durch seine permanenten Überschüsse mittlerweile einen riesigen Bestand an ausländischem Vermögen angehäuft, netto rund zwei Billionen Euro. Wenn aber eine Finanzkrise ausbricht, so wie zuletzt 2007/08, kann dieses Vermögen über Nacht wertlos werden. Dann hätte Deutschland seine Exportgüter de facto verschenkt.

STANDARD: Was sollte geschehen?

Südekum: Deutschland müsste mehr konsumieren. Dafür müssen Löhne unten und in der Mitte der Einkommenspyramide steigen. Außerdem muss mehr investiert werden, sowohl öffentlich als auch privat. Es geht nicht darum, den Leistungsbilanzüberschuss um seiner selbst willen zu bekämpfen. Deutschland sollte mehr investieren, um seine Infrastruktur auf den neuesten Stand zu bringen. Beim Thema Bildung oder digitale Netze sind wir zum Beispiel längst nicht auf dem Niveau, auf dem wir sein sollten. Deutschland lebt von seiner Substanz. In den vergangenen 20 Jahren haben die Investitionen nicht einmal ausgereicht, um die Abschreibungen beim öffentlichen Kapitalstock zu decken. Nebenbei würden mehr Investitionen bei uns auch der Eurozone helfen.

STANDARD: Inwieweit?

Südekum: Der Rest der Eurozone ist auf die deutsche Nachfrage angewiesen. Deutschland muss in der Eurozone gegenüber den übrigen Ländern real aufwerten: Das geht entweder, indem im Süden die Löhne weiter sinken und auf Austerität gesetzt wird. Das wäre für den sozialen Ausgleich in Europa nicht hilfreich, sondern befeuert im Süden doch bloß den Populismus. Eleganter wäre es, wenn die Löhne in Deutschland durch einen Boom, den Mehrinvestitionen auslösen, stärker steigen. Das ist nicht nur gut für Deutschland. Südeuropa wird dadurch relativ gesehen wettbewerbsfähiger, und die Eurozone kommt stärker ins Gleichgewicht. (András Szigetvari, 6.9.2017)