In einem Kunstwerk des britischen Künstlers Banksy zerstört ein Mann einen der EU-Sterne.

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Auf Nigel Farage ist Verlass. Wutentbrannt trat der Brexit-Vorkämpfer am Mittwoch vor die BBC-Kameras in Brüssel, wo der 53-Jährige noch immer als EU-Abgeordneter amtiert. Was da über den Finanzdeal zwischen London und dem 27er-Klub in den Zeitungen stehe, sei "völlig inakzeptabel", schimpfte der frühere Ukip-Vorsitzende. "Das britische Volk hat für den Austritt gestimmt, nicht dafür, weiterhin riesige Summen zu bezahlen."

Ganz egal, wie man das Abstimmungsverhalten vom Juni 2016 bewertet – von riesigen Summen ist tatsächlich die Rede. Übereinstimmend berichteten Londoner Medien, die britischen Unterhändler hätten den EU-Berechnungen zugestimmt. Diese sehen Bruttoverbindlichkeiten von rund 98 Milliarden Euro vor; die daraus entstehenden Nettozahlungen in die Brüsseler Kasse dürften zwischen 40 und 55 Milliarden Euro liegen. Im vergangenen Steuerjahr lag der britische Nettobeitrag nach Auskunft der unabhängigen Forschungsstelle im Unterhaus bei 8,1 Milliarden Pfund (9,2 Milliarden Euro); im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2014 betrug die Summe eine Milliarde Pfund, also 1,13 Milliarden Euro, weniger. Die zur Debatte stehenden Zahlungen entsprechen somit etwa fünf bis sechs Jahresbeiträgen.

Geldsummen waren im Unterhaus kaum ein Thema

Im Unterhaus, bei der Fragestunde an die Premierministerin, waren die gewaltigen Summen kaum Thema. Das lag einerseits daran, dass Theresa May zu einem dreitägigen Besuch im Nahen Osten weilt. Für sie machte der Erste Minister Damian Green deutlich, es sei zu früh, über konkrete Summen zu sprechen. Der Konservative wiederholte lediglich die Formel, an die sich alle Beteiligten zuletzt gehalten haben: "Eine Einigung besteht erst dann, wenn alles geklärt ist." Immerhin trug der breit grinsende Brexit-Minister David Davis auf der Regierungsbank demonstrativ Zuversicht zur Schau.

Offenbar ist es Davis und May gelungen, auch die Hardliner in Kabinett und Fraktion auf den Deal einzuschwören. Von einer EU-Afrika-Konferenz in Côte d'Ivoire steuerte Außenminister Boris Johnson die Erkenntnis bei, man wolle "das ganze Schiff von den Klippen wegbringen". Noch vor wenigen Monaten hatte die einstige Galionsfigur der EU-Feinde im Unterhaus mitgeteilt, die EU könne nach dem Austritt der Insel auf weitere Beiträge pfeifen. Am Mittwoch mochten sich selbst eingefleischte EU-Hasser bei den Konservativen nicht Farages Klagen anschließen. Man werde schließlich nach dem Austritt "riesige Summen sparen", gab der frühere Sozialminister Iain Duncan Smith zu bedenken.

Barnier bestätigt Einigung nicht

Wie in London Minister Davis mochte auch sein EU-Pendant Michel Barnier die Einigung nicht bestätigen. Die Verhandlungen seien "noch nicht beendet", ließ der EU-Chefunterhändler ausrichten. Tatsächlich kann bis Montag noch viel passieren. Dann wollen Premierministerin May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sich zum Mittagessen in Brüssel treffen und den Deal fixieren.

Vorsichtig äußerte sich deshalb gegenüber dem STANDARD auch Detlef Seif, Brexit-Experte der CDU-Fraktion im deutschen Bundestag. Zwar hätten die Briten ihre Position seit Mays Florentiner Rede im September verändert und dadurch den Fortschritt ermöglicht. Seifs Schätzung zufolge bleiben aber rund fünf Prozent der offenen Fragen bei der Finanzverhandlung noch offen. Dazu zählt der Abgeordnete beispielsweise die Umzugskosten für die beiden bisher in London ansässigen EU-Agenturen. Seit vergangener Woche steht fest, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) nach Amsterdam, die Bankenaufsicht (EBA) nach Paris umzieht. Zudem sei noch nicht geklärt, welche Anteile am Kapitalstamm der Europäischen Investitionsbank (EIB) der Insel zustünden. "Die Kuh ist noch nicht vom Eis", so Seif.

Gelassen sieht der deutsche Politiker die beiden anderen Themenkomplexe, bei denen die EU zuletzt von London ultimativ Fortschritte verlangt hatte. Dabei geht es um die zukünftigen Rechte der gut drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien und der rund eine Million Briten in anderen EU-Staaten sowie um die zukünftige Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland. Besonders in letzterer Frage sei eine Regelung erst möglich, wenn die zukünftigen Handelsbeziehungen geklärt sind, glaubt Seif und teilt damit die offizielle Verhandlungslinie Londons. Hingegen hat Irlands Premier Leo Varadkar zuletzt auf eine schriftliche Garantie der Briten gedrängt, den offenen Status der Grenze beizubehalten.

May will Verpflichtungen einhalten

In ihrer Florentiner Rede hatte May angekündigt, ihr Land werde seine "während der Mitgliedschaft eingegangenen Verpflichtungen einhalten". Der jetzt erzielten Einigung scheint eine Berechnung der EU zugrunde zu liegen. Danach muss Großbritannien für 13 Prozent der gesamten EU-Verpflichtungen in Höhe von 665 Milliarden Euro aufkommen. Zu diesen 86,4 Milliarden Euro gesellen sich weitere 10,5 Milliarden für unwahrscheinliche Haftungsfälle. Die Gesamtsumme von 97,9 Milliarden reduziert sich durch rasche Begleichung offener Rechnungen, einen Rabatt für langfristige Pensionszahlungen sowie Währungsschwankungen. (Sebastian Borger, 29.11.2017)