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Im Revolutionsjahr 1789 fand in Paris der Sturm auf die Bastille statt. 99 Jahre später stürmen Konsumenten Supermärkte in Frankreich. Der Grund: Lockangebote mit unverschämt tiefen Preisen.

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Die Pariser Zeitungen äußern geschlossen ihr "Unwohlsein". Wirtschaftsminister Bruno Le Maire meinte empört, man könnte doch nicht "an jedem vierten Morgen einen Volksaufstand tolerieren". Und sogar die Supermarktkette Intermarché rang sich nach längerem Schweigen zum Kommentar durch, es tue ihr "für die Kunden leid".

Eine Woche ist es her, dass der viertgrößte Einzelhändler Frankreichs (hinter Carrefour, Auchan, Leclerc) die Aktion "Ein Glas Nutella für 1,41 Euro statt für 4,50 Euro" lancierte. Schon vor Ladenöffnung stauten sich die Kunden vor den Toren der knapp 1500 Läden; als sich die Pforten öffneten, stürzten sie sich auf die 950 Gramm schweren Gläser und rissen sie einander schreiend aus den Händen. "Hört auf, meine Großmutter wird zertreten", schreit eine Stimme in einem Handyvideo.

Zuerst sprachlos, schimpften die sozialen Medien bald über Nutella, diese teuflische Mischung aus Zucker, Haselnuss und Palmöl, die offenbar das Zeug dazu habe, das Tier im Menschen zu wecken. Am Mittwoch erfassten die Intermarché-Operation namens "Die vier günstigsten Wochen" allerdings auch andere Produkte wie gemahlenen Kaffee oder Trockenwindeln von Pampers. Und auch die Superrabatte für diese Marken lösen vielenorts Volksaufläufe und unschöne Szenen aus.

Kollektive Hysterie

Womit bewiesen ist, dass Nutella nicht krawallfördernder ist als andere Produkte. Weshalb dann diese Szenen "kollektiver Hysterie", wie der Forscher Medhi Moussaïd meint? Er führt sie auf den Mechanismus des "sozialen Dilemmas" zurück: "Aus einem individuellen Gesichtspunkt betrachtet ist es am besten, vor allen anderen zu sein, um von dem 70-Prozent-Rabatt zu profitieren. Das Problem besteht darin, dass alle dieser Überlegung folgen."

Nichts Neues unter der Sonne, meinen andere mit Verweis auf den französischen Anthropologen Gustave Le Bon, der schon im 19. Jahrhundert die Psychologie der Massen studiert hatte und zum Schluss gekommen war, das Individuum folge in der Gruppe nur noch der "Unordnung und Dummheit".

Gegen diese Sicht wendet sich Jean-Yves Mano vom Konsumentenverein CLCV. Er verurteilt die Kunden nicht: "In Frankreich gibt es neun Millionen Arme. Sie sind schlicht gezwungen, dauernd nach Vergünstigungen oder Treueboni Ausschau zu halten."

Damit wird die Debatte sehr politisch. Der Grünenpolitiker Yannick Jadot meint, die Nutella-Tumulte enthüllten in erster Linie ein Kaufkraftproblem mittelloser Franzosen. Damit kritisiert er auch Präsident Emmanuel Macron, der vor allem die Reichen steuerlich entlastet hat. Sein Minister Le Maire meint zur Verteidigung: "Bei Rabatten von 50 oder 70 Prozent stürzen sich die Konsumenten immer drauf – das gilt für Nutella oder Pampers, doch man kann sich solche Szenen auch in Luxusläden vorstellen."

Luxusprodukte

Als Echo aus dem Internet kam die Frage, ob man sich nun bestandene Damen in der Avenue Montaigne, der Pariser Luxusmeile, vorstellen müsse, wie sie sich um einen Gucci-Pelz balgten. Die Konsumforscherin Nathalie Damery hält das nicht für dasselbe: Für viele einfache Leute, Rentner oder Arbeitslose aus den Außenvierteln seien schon Markennamen wie Nutella oder Pampers "Luxusprodukte", die sie sich normalerweise nicht leisten könnten. "Das sind keine raffgierigen Schnäppchenjäger, das sind Leute, für die es zum Monatsende auf jeden Euro ankommt."

Um Druck von der Regierung zu nehmen, hat Minister Le Maire den Intermarché-Direktor vorgeladen; auch beauftragt er das Betrugsdezernat, die Einhaltung der Rabattregeln in der – aktuellen Ausverkaufszeit – zu prüfen. Am Mittwoch präsentierte die Regierung eiligst ein seit Langem geplantes Gesetz, das die Beziehungen zwischen Bauern und dem Einzelhandel regelt. Dazu gehört auch die Frage von Dumping-Rabatten. Die Ausführungserlasse sind noch nicht bekannt; nach letztem Stand sollen sie aber nur noch 34 Prozent Rabatt zulassen. Vermutlich wird zuletzt das französische Verfassungsgericht darüber befinden müssen, wie viel Sonderrabatt der Frieden im Supermarkt und im Land verträgt. (Stefan Brändle aus Paris, 2.2.2018)