Kevin Kühnert sieht zwar einige Pluspunkte im Koalitionsvertrag. Aber unterm Strich reicht es für ihn nicht für ein neues Bündnis. Außerdem will er der AfD nicht die Oppositionsführerschaft überlassen.

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STANDARD: Viele sehen eine starke rote Handschrift im Koalitionsvertrag, die SPD hat zudem bei den Ministerien gut abgeräumt. Warum wollen Sie die Genossen dann vom Nein zur Groko überzeugen?

Kühnert: Wir haben eine grundlegende Analyse, an der sich nichts geändert hat: Wir wollen die SPD wieder als eigenständige politische Kraft und nicht als Anhang der Union sichtbar machen, und wir wollen die Oppositionsführerschaft nicht der AfD überlassen. Wir glauben nicht prinzipiell, dass die Opposition die besseren Rahmenbedingungen für die notwendige Erneuerung der SPD bietet. Doch in dieser spezifischen Situation spricht vieles dafür.

STANDARD: Was stört Sie konkret im Koalitionsvertrag?

Kühnert: Es setzt sich ein Trend aus der letzten Koalition fort, und das ist die Vertagung von vielen wichtigen Entscheidungen. Statt konkreter politischer Ziele ist von mehr als 100 Prüfaufträgen und Kommissionen die Rede – und das bei wichtigen Themen wie der Rente etwa oder der Gesundheit.

STANDARD: Da hat die SPD ja den Ausstieg aus der "Zwei-Klassen-Medizin" beschlossen – eigentlich.

Kühnert: Raus kam eine Kommission, die sich über Arzthonorare unterhalten soll. Die Vorgabe des Parteitages ist verfehlt worden.

STANDARD: Aber die SPD schaffte bei der Wahl nur 20,5 Prozent. Sie kann schlecht alles diktieren.

Kühnert: Das ist schon richtig, aber wir glauben einfach nicht, dass auf dieser Grundlage nach all den Jahren mit der Union etwas Produktives entstehen kann – mit einer Kanzlerin, die die Nichtentscheidung zum politischen Prinzip erhoben hat. Gemeinsam haben Union und SPD 14 Prozentpunkte bei der Bundestagswahl verloren. Das war doch ein klares Urteil.

STANDARD: Andererseits stehen im Koalitionsvertrag konkrete Entlastungen für Bürger. Zählt das nicht?

Kühnert: Sicher. Aber die SPD muss sich überlegen, ob sie so wahrgenommen werden will: dass sie mit der Entlastung des Soli (5,5 Prozent Aufschlag auf die Einkommensteuer) Entlastungen so vornimmt, dass Besserverdiener mehr und Geringverdiener wenig davon haben. Die SPD sollte sich mehr Interessenpolitik zutrauen.

STANDARD: In der SPD haben viele Angst, dass bei Neuwahlen die AfD sehr stark wird. Sie nicht?

Kühnert: Also, wenn wir Angst vor Wahlen haben, können wir den Laden gleich dichtmachen. Und die AfD ist ja nicht zuletzt in Zeiten der großen Koalition stark geworden. Wir dürfen nicht mit solchen Automatismen argumentieren. Das hieße, wir hätten keinen Einfluss mehr auf politische Entwicklungen. Eine gewagte These.

STANDARD: Fühlen Sie Druck aus der Parteispitze?

Kühnert: Die Auseinandersetzung verläuft sehr fair. Es gibt auch keine Drohungen oder Ähnliches.

STANDARD: Was passiert, wenn am 4. März tatsächlich ein Nein der SPD-Basis steht?

Kühnert: Dann gibt es keine große Koalition, nach Artikel 63 Grundgesetz ist der Bundespräsident am Zug. Vermutlich liefen die Entwicklungen zunächst auf eine Minderheitsregierung hinaus. Alles danach ist Spekulation.

STANDARD: Und mit der SPD? Sind Sie dann der "Totengräber", wie manche meinen?

Kühnert: Wir haben am 22. April einen Parteitag und müssen dann programmatische Pflöcke für ein neues Parteiprogramm einschlagen, etwa bei der Verteilung von Vermögen. Ich möchte auch, dass wir uns vom Dogma der schwarzen Null verabschieden und in Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur investieren. Ich bin natürlich nicht der Totengräber der SPD. Wir Jusos sorgen für klare Positionierung und dafür, dass die Stimmen der Kritiker prominent vertreten sind und es endlich wieder grundsätzliche Debatten gibt.

STANDARD: Aber Sie zeigen in einem Interview mit dem Magazin der "Süddeutschen Zeitung" der Union den Stinkefinger.

Kühnert: Ich denke, man sieht, dass das mit Augenzwinkern war. Man darf den Humor nicht verlieren und sollte auch in der Politik authentisch bleiben.

STANDARD: Apropos Umgang: Wie konnte das mit Martin Schulz passieren? Hat ihn niemand gewarnt?

Kühnert: Ich glaube, an Warnungen hat es nicht gemangelt. Ein Wortbruch ist immer die maximale Hypothek, weil er gängigen Klischees über Postenschacherei in der Politik entspricht. Die Konsequenzen waren folgerichtig. (Birgit Baumann, 21.2.2018)