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Medizinisch gilt Arbeitssucht derzeit nicht als Krankheit, ähnlich wie beim Burnout. Entsprechend gibt es keinen Diagnosekatalog und kaum wissenschaftliche Daten dazu.

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Wann wird viel eigentlich zu viel? Diese Frage wurde an der Sigmund-Freud-Universität in Wien diskutiert. Dabei ging es darum, wie mit Süchten am Arbeitsplatz umzugehen ist – und wann Arbeit selbst süchtig machen kann.

Zunächst bemühte man sich um eine Definition: Sucht ist, wenn man ein Verhalten nicht mehr kontrollieren kann, wenn es einen kontrolliert. Sucht als Krankheit des Nicht-aufhören-Könnens. Es gebe so viele Süchte, sagte Reinhard Haller, Psychiater und Buchautor, dass sich für jeden Buchstaben des Alphabets eine finden lasse. Auch wenn es zunächst paradox klingen mag: Sucht sei nicht nur schlecht. Sie wirke als Schmerzmittel, als Antidepressivum. "Es gibt wohl keinen größeren Superstar als Alkohol."

Ständiger Konkurrenzdruck

Nicht zuletzt deshalb trinken wohl auch 42 Prozent der Männer und 21 Prozent der Frauen mehrmals pro Woche, zehn beziehungsweise drei Prozent täglich, wie eine Auswertung der Statistik Austria zeigt. Laut einer Studie des Berliner Robert-Koch-Instituts sind Akademiker ab 45 mittlerweile die größte Risikogruppe für Alkoholsucht. Führungspersonen und Ärzte seien äußerst häufig betroffen, sagt auch Experte Haller. Es gebe sowohl "Elends-" als auch "Wohlstandsalkoholismus", also keine Gruppe, vor der Alkoholprobleme haltmachen.

Das wunderte Liedermacher Konstantin Wecker gar nicht: "In der Gesellschaft herrscht ein unglaublicher Konkurrenzdruck. Jeder hat ständig Angst, rausgeschmissen zu werden." Alkohol oder Cannabis entspannen, können einen die Sorgen kurzfristig vergessen lassen.

Wecker identifizierte eine weitere nützliche Funktion bewusstseinserweiternder Substanzen: Sie könnten helfen, "innere Räume zu entdecken, etwas noch Größeres in einem selbst zu spüren", wie er selbst in den 1970er-Jahren erfahren habe. Der Künstler – der kokste und Crack rauchte – ging sogar so weit zu sagen: "Es täte den meisten gut, wenn sie einmal im Leben einen Trip erlebt hätten." Verharmlosen wollte er Drogen aber nicht, er selbst habe noch einmal Glück gehabt.

Motiviert und treibt an

Auch der Arbeitssucht können die Gäste auf dem Podium etwas Positives abgewinnen: Sie treibe an, motiviere. Wenig überraschend wollte sich keiner als Workaholic outen, Arbeit wurde positiv besetzt und als sinnstiftend tituliert. Interio-Chefin Janet Kath: "Ich weiß gar nicht, was Arbeit ist. Es ist das Schönste für mich, aufzustehen und ins Geschäft zu gehen." Der Managerin sei nicht bewusst, "dass sie süchtig ist", witzelte Unternehmer Hans Peter Haselsteiner. Er findet: "Fleiß gehört zu den Tugenden, nicht zu den Süchten."

Auch Haller, gebürtiger Vorarlberger, sagte: "In meinem Bundesland bekommt man für diese Sucht einen Orden." Ob man denn eine Sucht überhaupt als solche bezeichnen kann, wenn es keinen Leidensdruck gibt?, wollte Moderatorin Lisa Mayr (STANDARD) wissen. Der Fachmann war diesbezüglich skeptisch.

Einfach weiterarbeiten

Beim Alkohol sind die Grenzen dagegen klarer definiert. Als problematischer Konsum wird für Männer üblicherweise ein Wert von 60 Gramm reiner Alkohol pro Tag angegeben, für Frauen 40 Gramm. Das entspricht 1,5 (beziehungsweise einem) Liter Bier täglich. Ab da gilt der Alkoholkonsum als gesundheitsgefährdend.

Eine Rolle dabei, dass es vielen scheinbar nicht mehr gelingt, kontrolliert zu trinken, spiele laut Haller die Verfügbarkeit.

Das kann auch für andere Süchte gelten: Die Digitalisierung macht Arbeit immer und überall möglich. Auch nach Feierabend checken viele ihre Mails. 43 Prozent der österreichischen Arbeitnehmer sind laut einer Umfrage bereit, auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten verfügbar zu sein. Es sei Aufgabe des Unternehmens gegenzuwirken, sagte Strabag-Gründer Haselsteiner und behauptete: "Bei uns ist es verpönt, rund um die Uhr erreichbar zu sein."

Viel Eigenverantwortung = geringeres Suchtrisiko

Ebenfalls eine Rolle spiele Selbstdisziplin. Die Diskutanten waren sich einig darüber, dass man sich Räume schaffen müsse, wo die Arbeit keine Rolle spielt. "Nur aus der Stille kann man Sinn schöpfen", sagte Wecker, der ein Fan von Meditation ist. Man müsse aushalten lernen, dass auch einmal Arbeit liegenbleibt, sagte Ö1-Journalistin Elisabeth Nöstlinger, ein bekennender "Erkenntnisgewinn"-Junkie. Haller sprach von einem "kultivierten Umgang mit der Sucht", den es zu erreichen gelte – es gebe ja auch kaum einen süchtigen Weinverkoster.

Zurück zur Verantwortung der Arbeitgeber. Sie müssten Mitarbeitern möglichst viel Eigenverantwortung geben, ist Haller überzeugt, denn: "Wenn Menschen autonom entscheiden können, haben sie ein geringeres Suchtrisiko."

Idee zur Prävention: Lob

Eine Sucht überhaupt zu erkennen sei in vielen Fällen schwierig, denn Betroffene funktionierten eine Zeitlang ganz gut weiter. Sie hätten ein enormes Repertoire an Ausreden, um zu erklären, warum sie unruhig sind oder zu spät kommen. Fehler kaschieren sie gekonnt. Über sein Problem sprechen will kaum jemand, weil er Angst hat, abgestempelt und abgeschrieben zu werden.

Das Fazit auf dem Podium: Man solle Sucht enttabuisieren. "Es braucht ein entspannteres Verhältnis", sagt Haselsteiner. Ähnlich wie beim Burnout – mittlerweile regelrecht zur Modekrankheit avanciert – sollte es für niemanden ein Problem sein, sich zu outen. Es brauche außerdem Hilfe zur Selbsthilfe. Experte Haller: "Man selbst ist der einzige kompetente Therapeut."

Nicht zu Raubtieren werden

Und was ist nötig, damit es erst gar nicht so weit kommt? Um Mitarbeiter vor Alkohol- und Arbeitssucht zu bewahren? "Authentisches Lob", sagte Haller, denn das sei "die billigste Droge" überhaupt. Das Ziel müsste zudem sein, dass Süchte "nicht zu Raubtieren werden, die uns auffressen, sondern Haustiere sind, die wir für uns nützen können". (Lisa Breit, 27.2.2018)