Wahre Worte in Chemnitz.

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In Deutschland wird nach den gewalttätigen Ausschreitungen von Rechtsextremisten in Chemnitz weiter über politische Konsequenzen diskutiert. Die Debatte dreht sich vor allem um die rechtspopulistische, im Bundestag vertretene Alternative für Deutschland (AfD), deren Kader sich an der Eskalation in Chemnitz beteiligt haben.

Das Konzert wird ab 17 Uhr im Livestream übertragen.
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Wie "Spiegel online" berichtet, wird die Jungendorganisation der AfD vom Bremer Verfassungsschutz beobachtet, auch in Niedersachsen soll es zu einer ähnlichen Maßnahme kommen. Niedersachsens Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) sagte am Montag in Hannover vor Journalisten, er habe die Beobachtung der Jungen Alternative in der vergangenen Woche entschieden und an diesem Montag die entsprechende Anordnung unterschrieben.

Nähe zu Identitärer Bewegung

Die Entscheidung sei "völlig ungeachtet und losgelöst" von den rechtsextremen Übergriffen in Chemnitz gefallen. Pistorius sagte, es gebe "ideologische und personelle Überschneidungen nicht unerheblicher Art" des AfD-Nachwuchses mit der Identitären Bewegung. Diese werde seit 2014 beobachtet. Pistorius forderte Innenminister Horst Seehofer (CSU) auf, seine "Zurückhaltung" gegenüber der AfD aufzugeben.

"Die Junge Alternative vertritt ein Weltbild, in dem Minderheiten wie Flüchtlinge oder Homosexuelle systematisch abgewertet und diffamiert werden", begründete Niedersachsens Innenminister den Schritt. Eine strukturelle Nähe des niedersächsischen Jugendverbandes zum organisierten Rechtsextremismus sei unverkennbar. "Damit wird auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel möglich", sagte der SPD-Politiker.

Sachsens Verfassungsschutz rechnet hingegen nicht mit einer baldigen Entscheidung darüber, ob die AfD wegen rechtsextremer Tendenzen beobachtet werden sollte. "Im Augenblick ist es noch viel zu früh, sich überhaupt dazu zu äußern", sagte Sprecher Martin Döring.

Im Übrigen sei es eine Daueraufgabe des Verfassungsschutzes, sich mit Anhaltspunkten für extremistische Bestrebungen auseinanderzusetzen, betonte Döring. SPD und Grüne fordern eine bundesweite Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz, während Unionspolitiker sich in dieser Frage skeptisch zeigen. "Die AfD hat sich offen zu rechtem Gedankengut bekannt. Wenn jemand diesen Staat bedroht, muss er beobachtet werden", sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder regte die Beobachtung einzelner AfD-Funktionäre an. Innenminister Horst Seehofer bekräftigte, zunächst solle die AfD nicht observiert werden.

AfD-Jugend will Landesverbände auflösen

Der AfD-Jugend-Bundesverband will wegen der Observierung durch den Verfassungsschutz seine Landesverbände in Niedersachsen und Bremen auflösen. Dies solle "zum Schutze der Gesamtorganisation" während eines außerordentlichen Bundeskongresses der Jugendorganisation der AfD beschlossen werden, teilte der Bundesvorsitzende Damian Lohr am Montag mit. Er nannte die Entscheidungen der Landesämter für Verfassungsschutz nicht nachvollziehbar. "Weder einzelne Landesverbände der JA, noch die Junge Alternative als Ganzes sind verfassungsfeindliche Organisationen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland einsetzen", erklärte er.

Kritik an AfD

Am Wochenende hatten Anhänger der AfD und der rechten "Bürgerbewegung Pro Chemnitz" gemeinsam in Chemnitz demonstriert. Kritiker werfen der AfD seit Jahren vor, sich nicht klar von rechtsextremistischen Strömungen abzugrenzen. Das gilt insbesondere für den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, der am Wochenende unter den Demonstranten war.

Angesichts des Verdachts, dass rechtsextremistische Netzwerke hinter den Kundgebungen mit Übergriffen auf ausländisch aussehende Menschen stehen könnten, sagte Verfassungsschutz-Sprecher Döring, dass es rein qualitativ keine neuen Erkenntnisse gebe. Derzeit sei die Fachabteilung des Verfassungsschutzes dabei, das während der Kundgebungen gesammelte Material auszuwerten. Im Fokus seien dabei "links- und rechtsextremistische Aktivitäten". Bis die Auswertung abgeschlossen sei, könne es Tage, möglicherweise auch Wochen dauern.

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In Chemnitz spielten indes am Abend namhafte Pop-, Rock- und Hip-Hop-Größen wie Kraftklub, selbst aus der Stadt, die Düsseldorfer Toten Hosen und Feine Sahne Fischfilet auf. Letztere wurden unlängst selbst vom mecklenburgischen Verfassungsschutz wegen "linksextremistischer Tendenzen" beobachtet, was die Grünen kritisierten.

Zehntausende Menschen haben am Montagabend an dem Open-Air-Konzert teilgenommen. Die Stadt schätzte die Besucherzahl auf 65.000, Tote-Hosen-Sänger Campino sprach am Ende des Konzerts sogar von 70.000. Nach Polizeiangaben blieb es friedlich

Demonstrationen des ausländer- und islamfeindlichen Bündnisses Thügida (Thüringen gegen die Islamisierung des Abendlandes) und der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz als Gegenveranstaltungen zum für den Abend geplanten Open-Air-Konzert wurden indes untersagt. Nach Angaben der Stadt wurden die Entscheidungen damit begründet, dass die angedachten Veranstaltungsflächen bereits belegt seien.

Thügida wollte sich am Montag unmittelbar neben dem Konzertgelände unter dem Motto "Gegen antideutsche Kommerzhetze" versammeln. Die Bewegung Pro Chemnitz wollte wie zuletzt am vergangenen Montag und am Samstag erneut vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz demonstrieren.

Kleinere Kundgebungen in ganz Deutschland

Auch in vielen anderen Städten formierten sich in den vergangenen Stunden und Tagen zahlreiche kleinere Versammlungen, die sich gegen faschistisches und rechtsradikales Gedankengut aussprechen, wie etwa in Bad Bentheim in Niedersachsen.

Aber auch in München traf man sich am Sonntag zum spontanen Gegenprotest, um sich einem Aufmarsch der rechtsextremen NPD am Marienplatz entgegenzustellen.

"München ist bunt" lautete das Motto der Gegendemo.
Foto: imago / Michael Trammer

Rund 450 Gegendemonstranten standen letztendlich weniger als einem Dutzend NPD-Sympathisanten gegenüber.

Keine weiteren Besuche der Regierungsspitze

Nach dem Besuch der deutschen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) am Freitag sind zunächst keine weiteren Termine von Regierungsvertretern vor Ort geplant. Weder Kanzlerin Angela Merkel noch Innenminister Horst Seehofer hätten derzeit konkrete Pläne, nach Chemnitz zu fahren, hieß es am Montag. Von Sprechern anderer Ressorts wurden ebenfalls keine Reisen angekündigt.

Merkel (CDU) habe sich in der vergangenen Woche "klar und deutlich geäußert", sie habe zudem mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) telefoniert, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert weiter. Die Kanzlerin habe ihre tiefe Betroffenheit über die grausame Tötung des jungen Manns ausgedrückt.

Seibert sagte, die als "Trauermarsch" angekündigte Demonstration gewaltbereiter Rechtsextremer und Neonazis habe "mit Trauer nicht das Geringste zu tun". "Von diesen Aufmärschen sollte eine ganz andere Botschaft ausgehen, die Botschaft des Hasses", sagte der Regierungssprecher. Die daran Beteiligten "stehen weder für Chemnitz noch für Sachsen insgesamt noch sind sie das Volk", betonte Seibert. "Das müssen wir ihnen mit allen Mitteln klarmachen." (red, APA, 3.9.2018)