Behindertenvertreter verschaffen sich Gehör – hier bei einer Demonstration für Barrierefreiheit in Innsbruck 1978.

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Sich selbst beraten und sich selbst nach außen vertreten. Mit dem Ziel, bestimmte Versorgungsleistungen direkt für sich zu beanspruchen und nicht für Institutionen, in denen man erneut in die Abhängigkeit gedrängt wird." Diese Forderung der Behindertenrechtsbewegung hat 2018 nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren. Sie ist jedoch 100 Jahre alt und zeigt damit sehr drastisch, wie es um die Anerkennung der Selbstbestimmtheit von Menschen mit Behinderungen in Österreich steht.

Wie lange Betroffene hierzulande schon um ihre Rechte kämpfen und welche Hürden ihnen dabei im Weg stehen, hat der Psychologe und Pädagoge Volker Schönwiese in einem Forschungsprojekt, das von der Universität Salzburg sowie dem Bidok-Archiv an der Uni Innsbruck finanziert wurde, untersucht. Mit erstaunlichen Ergebnissen: Denn anders als bisher bekannt wurden Forderungen nach Selbstbestimmung und -vertretung schon am Beginn der Ersten Republik laut. Allein gehört wurden sie schon damals kaum.

Als Pionier dieser Behinder tenrechtsbewegung kann Siegfried Braun bezeichnet werden, der 1915 vom mährischen Olomouc (Olmütz) nach Wien übersiedelte, da er sich hier bessere Behandlungsmöglichkeiten erhoffte. Diese Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Der einzige Rat, den der junge Mann erhielt, war: Am besten ist es, Sie gehen ins Siechenhaus. Braun war empört und enttäuscht darüber, dass einem 22-jährigen körperlich Beeinträchtigten das Altersheim als einzige Lösung angeboten wurde. Unter Protest trat er den Weg ins Heim an. Zugleich beschloss er, eine Selbsthilfeorganisation zu gründen: die erste österreichische Krüppelarbeitsgemeinschaft.

Keine Institutionalisierung

"Man kann davon ausgehen, dass in Österreich heute noch mehr als 2000 Personen unter 60 Jahren mit Behinderungen in Altersheimen untergebracht sind", veranschaulicht Schönwiese die Situation und wie wenig sich seit damals getan hat. Natürlich seien Rahmenbedingungen und Infrastruktur enorm verbessert worden. Aber die grundsätzliche Forderung der Behindertenrechtsbewegung, die Braun 1915 erstmals formulierte, sei heute noch aktuell: "Wir wollen nicht institutionalisiert werden."

Der Grund dafür sei in den zwei Arten von "Behindertenabwehrpolitik" zu finden, die in Österreich praktiziert werden. Die beiden großen politischen Lager, Sozialdemokratie und Christlich-Soziale, verfolgen dabei von jeher unterschiedliche Linien. Gemeinsam ist ihnen allein, dass sie Behinderten keine Selbstbestimmungsrechte zuerkennen, sondern diese letztlich als unmündige Objekte ihrer Politik sehen.

Bei den Sozialdemokraten werde unter dem Titel "Solidarität" der Fokus auf soziale Sicherungssysteme gelegt. Dabei steht aber nicht etwa das Gestaltungsrecht der Betroffenen im Vordergrund. Das Interesse konzentriere sich vielmehr auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, erklärt Schönwiese. Der Nutzen für den Dienstleistungssektor steht im Vordergrund, die Wissenschaft spricht hier von Kommodifizierung, also dem "Zur-Ware-Werden".

Dem gegenüber steht das christlich-soziale Prinzip der "Subsidiarität". Der Staat delegiert dabei so viele soziale Aufgaben wie möglich. Aber nicht, um den Betroffenen dadurch die Möglichkeit der Selbstbestimmung zu ermöglichen. Auch hier stünden ganz klar wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund, wie Schönwiese darlegt: "Damit ist nichts anderes als Sparpolitik und die Rückverweisung der Betreuungsaufgabe an die Familien, speziell die Frauen, gemeint."

Eine an dem wahren Bedarf der Betroffenen orientierte Politik, die Behinderung als sozialpolitisches Modell wahrnimmt und die von Teilhabe sowie Selbstbestimmung geprägt wäre, sucht man in Österreich nach wie vor vergeblich. Das hat zur Folge, dass jedweder Fortschritt vom Wohlwollen der Mächtigen abhängig ist. Behinderte bleiben in der Rolle der Bittsteller.

Beispielhaft dafür sind die 1990er-Jahre zu sehen. Dank einer politisch günstigen Konstellation wurden damals eine ganze Reihe von Reformen in Angriff genommen: Schulintegration, Pflegegeldreform und in Zusammenhang damit die Frage der Deinstitutionalisierung, Reform der Entmündigung in Richtung Sachwalterschaft sowie das Unterbringungsgesetz und die Verfassungsreform, die Benachteiligung verbietet. "Es waren zumindest erste halbe Schritte in die richtige Richtung", sagt Schönwiese. Doch ab Ende der 1990er hätten alle Regierungen wieder versucht, diese Errungenschaften zurückzudrehen.

Fehlender politischer Wille

Der Kampf um Behindertenrechte befindet sich gegenwärtig in einer Abwärtsspirale. Daran hat auch Österreichs Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung vor nunmehr zehn Jahren, die übrigens allein von Betroffenen vorangetrieben wurde, nichts geändert. "Es fehlt der politische Fortschrittswille", kritisiert Schönwiese. So werde Partizipation in Österreich bis heute absichtlich missverstanden: "Man lässt uns zwar teilweise mitmachen, aber ja nicht mitentscheiden." (Steffen Arora, 30.10.2018)