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Einst näher als die Ostküste, jetzt nah durch eine menge Kooperationen: Stanford ist besorgt über die Spannungen mit China.

Foto: Getty Images / Mark Boster

Jeglicher Eurozentrismus wird einem hier in ein paar Wochen ausgetrieben. In Kalifornien merkt man schmerzhaft, wie unwichtig Europas geworden ist und welch große Bedeutung China im Gegenzug bekommen hat. Die Berichterstattung über Europa beschränkt sich auf den Brexit – und auf den Beitritt Italiens zu Chinas "The Belt & Road" -Initiative. Zweimal hat die New York Times in großem Stil berichtet, dass Triest nun chinesisch wird.

Geografie und Geschichte

Mit unseren global-virtuellen Scheuklappen übersehen wir gerne, wie wichtig Geografie und Geschichte sind. Heute reist man von Kalifornien nach China genauso lang wie nach Europa. Jahrhundertelang war aber China viel näher als selbst die Ostküste der USA. Zur Zeit des kalifornischen Goldrauschs 1849 brauchte man fünf bis acht Monate von New York nach San Francisco. Am sichersten reiste man allemal per Schiff um das Kap Horn. 1855 verkürzte sich die Reise durch die Eisenbahn über den Isthmus von Panama auf sechs Wochen – allerdings mit beträchtlichem Malariarisiko.

Chinesische Migranten hingegen brauchten nur 33 Tage mit dem Schiff von Hongkong nach San Francisco. Mit dem Goldrausch brachte das eine erste Welle chinesischer Migration nach Kalifornien. Die zweite Welle kam zum Eisenbahnbau. Während die Union Pacific östlich von Utah auf irische Arbeitskräfte setzte, beschäftigte die Central Pacific von Charles Crocker und Leland Stanford für die schwierigere Trassierung über die Sierra Chinesen. Auf dem Höhepunkt der Bauarbeiten schufteten dort mehr als zehntausend. 1869, mit der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn, war dann Kalifornien erstmals näher bei New York als bei China: Die Bahnreise dauerte 90 Stunden.

Von den über drei Millionen Einwohnern des Silicon Valley sind die Asiaten mit 34 Prozent die knappe Mehrheit, Weiße gibt es in etwa genauso viele, und die Latinos machen 25 Prozent der Bevölkerung aus. 38 Prozent sind nicht in den USA geboren, und in dieser Gruppe sind mit 17 Prozent mehr Chinesen als Mexikaner. Insgesamt herrscht im Valley ein ethnischer Mix, der jedem europäischen Umvolkungsparanoiker den Magen umdrehen würde. Dennoch gibt es in Kalifornien kaum weißen Rassismus. In einer Studie zeigen Richard Medina und Emily Nicolosi von der University of Utah, dass der Rassenhass in den USA dort am größten ist, wo die geringste Einwanderung herrscht, nämlich in Idaho und Montana sowie in den Südstaaten Mississippi und Arkansas. Die Dichte an Hate-Groups ist in Texas und Kalifornien, den Staaten mit Masseneinwanderung, sehr gering.

Rassistische Aufstände

Das war nicht immer so in Kalifornien. In den 1870er Jahren entbrannten rassistische Aufstände. Im Oktober 1871 ermordete ein wildgewordener Mob in Los Angeles 20 Chinesen. 1877 endete in San Franciscos Chinatown ein mehrtägiges Pogrom mit Toten und schweren Verwüstungen. Eine Rezession, die Kalifornien nach dem Gold-, Silber- und Eisenbahnrausch 20 Prozent Arbeitslosigkeit brachte, führte zur Gründung der sozialistischen Workingmen's Party. Diese suchte die Schuld bei den chinesischen Migranten. 1882 wurde ein Bundesgesetz erlassen, das die chinesische Einwanderung vollkommen untersagte. Sie wurde erst ab 1943 wieder sukzessive erlaubt.

Die Gründerin der Stanford University, Jane Stanford, war eine Kämpferin gegen diesen Rassismus. Es war ihr wohl bewusst, dass der Reichtum der Stanfords den chinesischen Eisenbahnarbeitern zu verdanken war. Sie soll einen sinophoben Professor gefeuert haben. Heute sind in Stanford 20 Prozent der Studierenden asiatischer Herkunft. Die Hälfte davon hat die chinesische Staatsbürgerschaft. Stanford ist extrem beliebt bei der stark wachsenden Zahl chinesischer Studierender in den USA, aber auch bei chinesischen Wissenschaftern. Die Stanford University unterhält unzählige Projekte in China und ist entsprechend besorgt über die Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und China.

Zivilgesellschaft in China

Auch eines der Projekte, an denen wir hier arbeiten, hat mit China zu tun. Im Civic Life of Cities Lab untersuchen wir mit Woody Powell aus Stanford die Zivilgesellschaft und die Non-Profit-Organisationen in sechs urbanen Ballungsräumen auf vier Kontinenten: die Bay Area um San Francisco, der Puget Sound um Seattle, die Großräume Sydney, Wien, Singapur und Shenzhen. Letztere ist eine Planstadt mit Sonderwirtschaftszone im Hinterland von Hongkong. 1950 war Shenzhen ein kleines Dorf, 1980 hatte es die Größe St. Pöltens, 2018 ist es eine Megacity mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern.

Was die Stadt für unsere chinesischen Kolleginnen und uns so spannend macht: Hier sind soziale urbane Strukturen und Zivilgesellschaft quasi im Druckkochtopf entstanden – mit allen Einschränkungen eines zentralistischen Planungssystems. Aber das war im Wien des 19. Jahrhunderts nicht viel anders, auch in Hinblick auf die sozialen Probleme der Massenzuwanderung und dem Entstehen eines recht- und heimatlosen Industrieproletariats. Paradox, dass sich diese Geschichte offenkundig gerade im letzten kommunistischen Imperium wiederholt. (Michael Meyer, 1.4.2019)