Forscher kamen der Herkunft der radioaktiven Wolke dank 1.300 Messungen vor allem in Europa auf die Spur.

APA

Wenn von Nuklearunfällen die Rede ist, dann denken die meisten vermutlich zuerst an Tschernobyl und Fukushima. Diese beiden Katastrophen gelten nach der siebenteiligen internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse auch als die einzigen Ereignisse der Stufe 7 (Ines 7) und als ein Super-GAU. Sehr viel weniger bekannt sind einige lange geheim gehaltene Vorfälle, die weniger katastrophal waren, obwohl sie zum Teil lokal sehr viel dramatischere Folgen hatten.

Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhielt auch ein Vorfall im Herbst 2017, obwohl dadurch viel mehr Radioaktivität nach Österreich gelangte als durch Fukushima knapp sechs Jahre zuvor. Obwohl die radioaktive Wolke 2017 praktisch in ganz Europa registriert wurde, ging sie in der öffentlichen Wahrnehmung ein wenig unter – auch deshalb, weil es für sie keinen offiziellen Verursacher gab.

Doch eine neue Studie, an der auch der aus Österreich stammende Radioökologe Georg Steinhauser (Uni Hannover) maßgeblich beteiligt ist, präsentiert nun eine plausible Erklärung für das Rätsel – und erhärtet bisherige Vermutungen.

Ruthenium-106 statt Jod-131

Was war Ende September 2017 geschehen? Die ganze Sache war einigermaßen rätselhaft, wie Steinhauser erklärt. Das lag vor allem daran, dass bei der radioaktiven Wolke das Radionuklid Ruthenium-106 (mit einer Halbwertszeit von 374 Tagen) die höchsten Werte aufwies und nicht etwa Jod-131, das beispielsweise bei Fukushima hauptsächlich freigesetzt wurde. Das Spaltprodukt Ruthenium-106 war hingegen nach Fukushima gar nicht in Europa nachweisbar – anders als etwa beim Fallout von Tschernobyl im Jahr 1986, bei dem auch Ruthenium-106 unsere Umwelt belastete.

Im Herbst 2017 betrugen die Höchstwerte in Europa bis zu 176 Millibecquerel pro Kubikmeter Luft, was weit davon entfernt ist, gesundheitsschädlich zu sein. Aber diese Werte sind bis zu 100-Mal höher als jene, die nach Fukushima in Europa zu messen waren. Messungen zeigten zudem eine enorme Ausdehnung der mysteriösen Wolke, die bis in die Karibik reichte.

1.300 Messwerte aus ganz Europa

Für seine Studie im Fachblatt "PNAS" trug das Forscherteam um Steinhauser und seinen französischen Kollegen Olivier Masson (Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire, IRSN) mit internationaler Unterstützung 1.300 Messwerte aus ganz Europa zusammen – "eine vorbildliche internationale Kooperation", wie Steinhauser betont. Die österreichischen Messwerte der Studie stammen von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) und der TU Wien, wo Steinhauser studiert und promoviert hat.

Das rekonstruierte Muster der Konzentrationsverteilung von Ruthenium-106 in den Tagen nach dem Unfall.
GRafik: Masson, Steinhauser et al., PNAS 2019

Die Verteilung der Ruthenium-106-Messwerte in Europa, die etwa im östlichen Rumänien besonders hoch waren, und atmosphärische Modellierungen erhärteten eine Vermutung, die schon bald nach dem Entdecken der radioaktiven Wolke geäußert wurde: Der Unfallort dürfte mit ziemlicher Sicherheit die russische Militär- und Wiederaufbereitungsanlage Majak im Südural gewesen sein, rund 1.500 Kilometer östlich von Moskau.

Von offizieller russischer Seite wurde in den Wochen danach alles abgestritten. Jene zwei Erklärungen, die von den Russen ins Spiel gebracht wurden, konnten von den Forschern allerdings eindeutig widerlegt werden: Sie schließen erstens aus, dass es sich bei der Freisetzung um die Radionuklidbatterie eines abgestürzten Satelliten gehandelt haben könnte. Und sie nehmen auch Rumänien in Schutz, das von Russland als Freisetzungsort ins Spiel gebracht wurde.

Einer der größten Atomunfälle überhaupt

Majak (auf Deutsch: Leuchtturm) ist im Westen einigermaßen unbekannt, obwohl es der Ort einer der größten nuklearen Freisetzungen in der Geschichte war. Neueren Schätzungen zufolge entsprach der Unfall, der sich 1957 dort ereignete und lange geheim gehalten wurde, vermutlich Ines 7 und war womöglich sogar noch größer als Fukushima.

Ausführliche 3sat-Dokumentation über das Unglück von 1957.
doku point

Wie man heute weiß, explodierte dort am 29. September 1957 ein Tank mit flüssigen Abfällen aus der Atomwaffenerzeugung und verursachte eine massive radioaktive Kontamination. Damals war die Existenz der Anlage noch geheim, daher wurde der Unfall nach der nächsten größeren Stadt Kyschtym-Unfall genannt. Nach Angaben der Produktionsfirma und der Behörden wurde damals Materie mit einer Radioaktivität von 400 PBq (Petabecquerel) über eine Fläche von etwa 20.000 Quadratkilometern verteilt.

Der Unfall von 1957 ist damit hinsichtlich der Radioaktivität des freigesetzten Materials beinahe vergleichbar mit der Katastrophe von Tschernobyl. Etwa 90 Prozent des radioaktiven Materials verblieben auf dem Betriebsgelände, zehn Prozent wurden durch den Wind bis zu 400 Kilometer in nordöstlicher Richtung verteilt (Fallout) und bildeten die sogenannte Osturalspur, siehe Abbildung:

Das durch den Kyschtym-Unfall, der eigentlich in Majak stattfand, im Jahr 1957 kontaminierte Gebiet. Der Unfall vor 62 Jahren gilt als der größte der Geschichte, der lange geheim gehalten werden konnte.
Foto: Jan Rieke, maps-for-free.com (CC BY-SA 3.0)

Ein Unfall fast zum Jahrestag des Unfalls

Doch zurück zu dem Unfall 60 Jahre später. Tatsächlich fand das Ereignis 2017 fast auf den Tag genau zum Jubiläum der Katastrophe statt, wie Steinhauser im Gespräch mit dem STANDARD erklärt: Er konnte mit seinen Kollegen den Unfallzeitpunkt nämlich auf die Zeit zwischen dem 25. September 2017 um 18 Uhr und dem 26. September 2017 mittags eingrenzen. Zudem ist sich das Forscherteam sicher, dass es sich um eine sogenannte gepulste Freisetzung handelte, die nach kurzer Dauer vorüber war – anders als Tschernobyl oder Fukushima, wo die Freisetzung über Tage andauerte.

Die kerntechnische Anlage Majak auf einer Satellitenaufnahme.
Foto: NASA, Jan Rieke / gemeinfrei

Ein Unfall mit "jungem" Brennstoff

Auch bei der eigentlichen Unfallursache haben die Forscher einen heißen Verdacht, der bereits einige Wochen nach dem Unfall vom französischen Nuklearsicherheitsinstitut IRSN geäußert worden war (etwa in diesem Text im Fachblatt "Science") – und der selbst mit physikalischer Forschung zu tun hat. Der Unfall dürfte ziemlich sicher im Rahmen der Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennelementen passiert sein, was sich aus dem detektierten Verhältnis von Ruthenium-106 und Ruthenium-103 schließen lässt. "Wir wissen aus den Daten, dass der letztlich 'verunfallte' Brennstoff nur eineinhalb bis zwei Jahre zuvor noch im Reaktor im Einsatz war", erklärt Steinhauser.

Für die Wiederaufbereitung sei dies ein ungewöhnlich "junger" Brennstoff. Normalerweise warte man mindestens drei Jahre, bevor man sich an die Wiederaufbereitung heranwagt. Der Grund liegt auf der Hand: Jüngerer Brennstoff ist so hochradioaktiv, dass die Extraktionsmittel radiolytisch zersetzt werden und dadurch die Wiederaufbereitung behindert wird, was zu großen Schwierigkeiten führen kann.

Eine Bestellung aus dem Gran-Sasso-Labor

Warum also ist so junger Brennstoff zur Anwendung gekommen? Wie die Forscher vermuten, steckte eine wissenschaftliche Bestellung aus Italien dahinter. In den Laboratori Nazionali del Gran Sasso sollten Versuche zur Physik des Neutrinos durchgeführt werden. Dafür brauchte man eine enorm radioaktive Quelle, und zwar Cer-144. Dieses Radionuklid wird ebenfalls aus abgebrannten Brennelementen hergestellt – und wurde nachweislich in Majak bestellt.

Die freigesetzte Menge Ruthenium-106 lässt sich laut den Berechnungen der Forscher sehr gut mit der bestellten Menge Cer-144 korrelieren. Wichtiger noch: "Um die Spezifikationen für das europäische Experiment zu erfüllen, musste der Brennstoff ungewöhnlich 'jung' sein", so Steinhauser. "Das junge Alter des Rutheniums lässt sich mit dem benötigten Alter für die Cer-144-Quelle korrelieren."

Schließlich gebe es noch ein letztes Indiz, dass bei der Herstellung der Cer-144-Quelle für das Gran-Sasso-Labor etwas schiefgelaufen sein könnte: Im Dezember 2017 stornierte Majak die Bestellung aus Italien. Man sei nicht in der Lage, die Quelle mit den gewünschten Spezifikationen herzustellen. (Klaus Taschwer, 29.7.2019)