Bei dem Thema kalte Progression scheiden sich die Geister. Die Diskussion ist nicht neu.

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Eine "schleichende Steuererhöhung", eine heimliche "Ausplünderung" der arbeitenden Bürger, "legalisierter Diebstahl": Die kalte Progression sorgt in regelmäßigen Abständen für einen Sturm der Entrüstung. Vor allem unter Wirtschaftsliberalen und innerhalb konservativen Parteien gehört die Forderung, sie abzuschaffen, seit langem zu den zentralen Forderungen.

Umso interessanter ist, dass nun mit ÖVP und FPÖ zwei Parteien in der Regierung sitzen, die selbst wiederholt die Abschaffung der schleichenden Erhöhung gefordert haben, dies aber nun, da sie könnten, nicht umsetzen. Was sind die Argumente für die Abschaffung, und was spricht dafür, den Status quo beizubehalten?

Bei der kalten Progression handelt es sich um eine stetige zusätzliche Belastung der Realeinkommen. Sie entsteht, weil Tarifstufen und Freibeträge nicht an die Inflation angepasst werden.

Ansteigende Steuerstufen

In Österreich gilt eine Freigrenze in der Einkommenssteuer von 11.000 Euro. Bis dahin wird nicht besteuert. Darüber hinaus greifen fixe und ansteigende Steuerstufen von 25, 35 Prozent und mehr.

Dieses System sorgt dafür, dass die Einkommenssteuer die einzig progressive Steuer ist, bei der Besserverdiener stärker belastet sind. Dieser progressive Tarif hat zwingend zur Folge, dass jede Einkommenserhöhung dazu führt, dass die durchschnittliche Steuerbelastung aufs Einkommen steigt.

Finanzminister Löger und Kanzler Kurz bei der Präsentation der Steuerreform.
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Sofern jemand real mehr verdient und mehr zum Ausgeben hat, ist das gewollt. Anders ist es, wenn der Lohn nur im Ausmaß der Inflation steigt oder das Plus kleiner ausfällt. Dann nimmt die Steuerlast zu, obwohl der Betroffene real gar nicht mehr hat. Das ist die kalte Progression.

Befürworter einer Abschaffung sagen, dass die schleichende Steuererhöhung Menschen Kaufkraft kostet und damit die Wirtschaft negativ trifft. Zugleich werden die Erhöhungen ohne Gesetzesbeschluss vollzogen. Kann das demokratisch sein, lautet die Frage. Ein anderes Argument: Pflegegeld und andere Zuschüsse fallen bei höherer Inflation ja auch nicht automatisch höher aus. Der Staat nimmt mehr und gibt real weniger: Ist das fair?

Die Lehrer werden teurer

Wer die Abschaffung der kalten Progression fordert, setzt damit zwangsläufig den Staat unter Druck, lautet das Gegenargument. Denn die Ausgaben des Staates steigen laufend. Gehälter für Lehrer, Ärzte und Polizisten müssen erhöht werden, Gesundheitskosten nehmen zu. Dank einer steigenden Lebenserwartung steigen die Kosten für Pensionen tendenziell. Nur solange der Staat über die Steuererhöhungen laufend mehr kassiert, lassen sich die zusätzlichen Kosten tragen.

Der öffentlichen Hand das Geld wegzunehmen und es Arbeitnehmer oder Vermietern, die auch Einkommenssteuer zahlen, zu überlassen, liefe auf eines hinaus: weniger Staat, mehr privat. Die Debatte ist also von einer Spaltung entlang ideologischer Auffassungsunterschiede geprägt.

Hinzu kommt als Argument, dass die kalte Progression kein neues Phänomen ist. Ein Schaden sei dem Land bisher nicht entstanden. Stattdessen wurden die Steuerzahler in regelmäßigen Abständen im Nachhinein entlastet. Und: Kleine Einkommen zahlen ohnehin keine Lohnsteuer und sind daher von dem Phänomen gar nicht betroffen.

Reformen? Nicht bei uns!

Dagegen sagen Anhänger einer Abschaffung, dass ein Ende der kalten Progression Regierungen zwingen würde, Ausgaben auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Im System versickere viel Geld, Stichwörter Föderalismus, Bürokratie. Und wenn die Wirtschaft gut laufe, Löhne und Gewinne steigen, kassiere der Staat ohnehin über höhere Steuern mit.

Tatsache ist: Die kalte Progression führt zu einer stetigen Erhöhung der Steuerlast auf Arbeit, während es diesen Effekt bei Unternehmens-, Umwelt- sowie Kapitalertragssteuern nicht gibt oder höchstens dann, wenn bestehende Freigrenzen nicht angehoben werden. Die Körperschaftssteuer für Unternehmen zum Beispiel beträgt aktuell 25 Prozent und ist eine Flat Tax. Die Steuerlast kann also auch bei höheren Gewinnen nicht steigen.

Interessant ist, dass inzwischen selbst in der Arbeiterkammer und in der ÖGB-Führung die Abschaffung der kalten Progression verlangt wird. Auch wenn das niemand offen zugeben würde, ist das aber wohl nur bedingt echter Überzeugung geschuldet. Vielmehr ist es schwer, Arbeitnehmern, die man vertritt, zu vermitteln, warum es für sie nicht gut sein soll, wenn sie weniger Steuern zahlen.

Alte Debatte

Die Debatte über das Thema belebt hat zuletzt Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) 2016. Er schlug vor, die Tarifstufen immer dann zu erhöhen, wenn die Inflation einen Grenzwert von fünf Prozent übersteigt. Die SPÖ wollte nicht Nein sagen. Daher sprach sie sich für eine automatische Entlastung nur bei unteren Tarifstufen aus, wohlwissend, dass die ÖVP ablehnen musste.

Ein weiterer Streitpunkt betrifft die Kosten: Die Schätzungen dazu, was ein Aus der kalten Progression kostet, sind unterschiedlich.

Einige Länder haben sie schon abgeschafft. In der Schweiz werden Steuerstufen und Absetzbeträge an die Konsumentenpreise angepasst. Schweden geht sogar weiter und kompensiert auch die steuerliche Progression aus steigenden Reallöhnen. Der Budgetdienst des Nationalrates hat errechnet, wie viel Österreich diese Modelle kosten würden. Zwischen 2017 und 2019 hätte eine Indexierung nach Schweizer Vorbild zwei Milliarden Euro weniger an Steuern gebracht. Das schwedische Modell 4,1 Milliarden. Ist das leistbar? Es ist umstritten. Aber das ist eine andere Geschichte. (András Szigetvari, 4.5.2019)