Auch im ausgesprochen kalten Weltraum finden sich Säuren. Dort allerdings funktioniert die Chemie etwas anders, als in den irdischen Labors. Wie Säuren bei extrem tiefen Temperaturen mit Wassermolekülen interagieren, haben nun deutsche Wissenschafter genauer untersucht. Das Team um Martina Havenith und Dominik Marx von der Ruhr-Universität Bochum ging mit mit spektroskopischen Analysen und Computersimulationen der Frage nach, ob Salzsäure (HCl) unter Bedingungen, wie sie im interstellaren Raum herrschen, ihr Proton abgibt oder nicht. Die Antwort war überraschend uneindeutig.

Trifft Salzsäure unter normalen Bedingungen, zum Beispiel bei Zimmertemperatur, auf Wassermoleküle, dissoziiert die Säure sofort: Sie gibt ihr Proton (H+) ab, es bleibt ein Chloridion (Cl-) übrig. Das Forschungsteam wollte herausfinden, ob der gleiche Prozess auch bei extrem tiefen Temperaturen unter zehn Kelvin – also unter minus 263,15 Grad Celsius – stattfindet.

"Wir möchten wissen, ob es unter den extremen Bedingungen im interstellaren Raum die gleiche Säure-Base-Chemie gibt, die wir von der Erde kennen", erklärt Havenith. "Die Ergebnisse sind entscheidend, um verstehen zu können, wie sich komplexere chemische Moleküle im All gebildet haben – noch lange bevor die ersten Vorläufer für Leben entstanden."

Superflüssiges Helium als Weltraumlabor

Um die extrem tiefen Temperaturen im Labor nachzustellen, ließen die Wissenschafter die chemischen Reaktionen in einem Tropfen aus superflüssigem Helium ablaufen. Die Vorgänge verfolgten sie mit einer besonderen Form der Infrarot-Spektroskopie, welche Molekülschwingungen mit niedrigen Frequenzen detektieren kann. Dazu braucht es einen Laser mit besonders starker Leuchtkraft, wie er in Nijmegen zur Verfügung steht. Computersimulationen erlaubten den Wissenschaftern, die experimentellen Ergebnisse zu interpretieren.

Zunächst gaben die Forscher zu dem Salzsäure-Molekül nacheinander vier Wassermoleküle hinzu. In diesem Prozess dissoziierte die Salzsäure, sie gab ihr Proton an ein Wassermolekül ab, es entstand ein Hydroniumion. Das übrig gebliebene Chloridion, das Hydrioniumion und die drei weiteren Wassermoleküle bildeten ein Cluster.

Unterschiedliche Ergebnisse

Erzeugten die Forscher jedoch zunächst einen eis-ähnlichen Cluster aus den vier Wassermolekülen und gaben dann die Salzsäure hinzu, erhielten sie ein anderes Ergebnis: Das Salzsäure-Molekül dissoziierte nicht; das Proton blieb am Chloridion gebunden.

"Unter den Bedingungen, wie sie in interstellaren Wolken herrschen, kann es also zur Dissoziation von Säuren kommen, es muss aber nicht notwendigerweise passieren – die beiden Prozesse sind quasi zwei Seiten derselben Medaille", fasst Martina Havenith zusammen.

Komplexe Chemie im Weltall

Die Forscher gehen davon aus, dass sich das Ergebnis auch auf andere Säuren übertragen lässt, also das Grundprinzip der Chemie bei ultrakalten Bedingungen darstellt. "Die Chemie im Weltall ist also keineswegs einfach, sie könnte sogar komplexer sein als die Chemie unter planetaren Bedingungen", sagt Marx. Denn es komme nicht nur auf die Mischungsverhältnisse der reagierenden Substanzen an, sondern auch auf die Reihenfolge, in der sie zueinandergegeben werden. "Dieses Phänomen muss bei künftigen Experimenten und Simulationen unter ultrakalten Bedingungen bedacht werden", so der Forscher. (red, 16.6.2019)