"In der schändlichen Menagerie unserer Laster
Ist eines noch hässlicher, noch bösartiger, noch schmutziger!
Die Langeweile ist’s!"

Charles Baudelaire warnte schon 1857 vor dieser Blume des Bösen. Im Gegensatz zu diesem Laster, das seitdem noch viele nachfolgende europäische Generationen jeweils für sich als prägend beanspruchten, ist die Langmut, heute geläufiger als Geduld, zu sehen, die – nach antikem Vorbild – im Mittelalter in den Kanon der himmlischen Tugenden aufgenommen worden ist. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Bergmänner, die aufgrund ihrer gefährlichen Arbeit als tief religiös galten, sich im 18. und 19. Jahrhundert – zu einer Zeit, als noch keine ideologischen Alternativen verfügbar waren – nach ihrer Arbeit einem Zeitvertreib widmeten, dessen Endprodukt nach dieser himmlischen Tugend benannt ist: die Geduldsflasche.

Geduldsflaschen, aufgrund ihres Produktionsverfahrens auch Eingericht genannt, weisen zumeist religiösen Inhalt auf und stellen Krippen- und Passionsszenen sowie Heilige dar. Bergmännische Eingerichte wie jenes, das sich im Stadtmuseum Retz befindet (Abb. 1), sind vergleichsweise eine Seltenheit und stammen aus den vom Bergbau geprägten Regionen im Erzgebirge (dem Mittelgebirge in Sachsen und Böhmen), im Vogtland, im Harz und im Slowakischen Erzgebirge (Slovenské rudohorie). In der Umgebung der meisten Erzbergbaue bestanden Glashütten, die solche Flaschen – vorwiegend für den Transport von Wein oder auch für Apotheken – produzierten.

Abb.1: Das Eingericht im Retzer Museum.
Foto: Lukas Kerbler, Museum Retz

Allen Flascheneingerichten ist ihre mühsame Herstellung gemeinsam, die ein außerordentliches Maß an Geduld, Planung und Genauigkeit erforderte. Die zerlegten oder geklappten Einzelteile wurden im Flascheninneren zusammengesetzt und mit Dübel-, Bolzen- oder Klebeverbindungen aufgebaut, wozu man entsprechend feine und lange Pinzetten, Nadeln, Zangen und Drähte verwendete.

Die Zutaten des Retzer Eingerichts

In der rechteckigen Retzer Geduldsflasche ist auf drei Etagen (Sohlen) die Arbeitswelt der Bergleute dargestellt. Die Flächen der Etagen sind durch durchgehende geschraubte Säulen in den Ecken verbunden, die mit Erzgrus bedeckt sind. In der untersten Sohle wird der Abbau im Stollen gezeigt: Ein Häuer mit nacktem Oberkörper steht auf einem Gerüst und löst Erzbrocken von der Stollenwand, ein Truhenläufer transportiert Erzbrocken auf einem hölzernen Schubkarren ab, ein weiterer Knappe zerkleinert die Brocken mit einem Schlägel, die dann in Holzfässer gefüllt werden, um von einem Seilzug in die nächste Etage befördert werden (Abb. 2). Für die Knappen erfolgt die Verbindung zur nächsten Etage über eine Leiter (Fahrt).

Abb. 2: Knappen, Häuer und Truhenläufer in der untersten Etage
Foto: Celine Wawruschka

Die Welt der Bergarbeiter über Tag

In der zweiten Sohle, die bereits eine Szene über Tag zeigt, ist nicht nur das Ende eines durch Pferdekraft betriebenen Flaschenzugs zu sehen, eine sogenannte Roßkunst, auch Pferdegöpel genannt, der zur Förderung der Erze diente. Gut erkennbar ist der Göpeltreiber mit seiner Peitsche, der von seinem Hochsitz aus die Pferde antrieb. Vor dem Pferdefuhrwerk und dem Flaschenzug liegt ein umgefallener Mann, der sich durch seine Kleidung deutlich von den Knappen in der unteren Etage unterscheidet. Während die Knappen durchwegs weiße Blusen und Röcke mit schwarzen beziehungsweise in einem Fall einer roten Jacke und einen grünen hohen Schachthut tragen, ist der Gestürzte mit einer roten Schafthose, schwarzen Stiefeln, einer weißen engen Jacke mit einer quer verlaufenden Schärpe und einem dreispitzigen schwarzen Hut mit weißem Rand bekleidet. Hier handelt es sich aufgrund der Kleidung um einen höheren Beamten. Hinter dem Gestürzten sind auch die beiden Pferde des Fuhrwerks zu Fall gekommen (Abb. 3).

Zwischen den Pferden und dem Treibrad des Pferdegöpels ist ein pyramidenförmiges Objekt zu sehen, das sich auf einem vergoldeten Podest befindet. Hier handelt es sich um aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Erzstufe, ein aus der Lagerstätte herausgehauenes Stück Erz, das, mitunter noch kunstvoll verziert, auf den Bergparaden mitgeführt wurde, die ihren Ausgang oder ihr Ende in der Regel in einer Kirche nahmen (Abb. 4).

Abb. 3: Szenen über Tag in der mittleren Etage.
Foto: Celine Wawruschka
Abb. 4: Erzstufen. Quelle:https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/734087
Warwruschka/SKD/Staatliche Kunstsammlung Dresden

Ein seltener Gast

In der zweiten Etage findet sich auch ein seltener Gast: eine Frau. Sie steht in einem weißen Kleid mit roten Borten und einer ebensolchen Schürze sowie einem roten Schultertuch mit schwarzen Borten und einer schwarzen Haube mit weißem Rand und großer Feder vor einem Altar, der in einer Ecke der Flasche angebracht ist, und dem sie ihre Hände entgegenstreckt. Den krönenden Abschluss dieser Etage bildet ein Luster mit vier brennenden Kerzen. In der obersten Etage ist eine Stadt mit einer Kirche und Bäumen dargestellt. Auffällig ist hier eine auf einem großen Sockel aufrecht stehende, vergleichsweise überdimensionierte helle Statue eines Knappen, der aus der Flasche heraus zu blicken scheint (Abb. 5).

Abb. 5: Die überdimensionale Statue eines Knappen und der goldene Schlüssel an den Sperrteilen.
Foto: Celine Wawruschka

Verschlossen ist die Geduldsflasche mit einem Holzstöpsel mit pilzförmiger Kappe, unter dem sich Querkeile mit einem symbolischen Schlüssel und einem bereits herabgefallenen goldfarbenen Schloss befinden, die ein späteres Öffnen der Flasche tatsächlich und symbolisch verhindern (Abb. 6). Diese Sperrteile wurden vor dem Verschließen an Zugschnüren eingelassen, die anschließend durch eine Längsbohrung im Stöpsel hochgezogen und positioniert wurde. Nach dem Entfernen herausragender Schnurteile wurde das Bohrloch unkenntlich gemacht und versiegelt.

Abb. 6: Sperrteile im Flaschenhals und herabgefallenes Schloss.
Foto: Celine Wawruschka

Göpel und Schuten: Zeitliche und räumliche Einordnung

Die Einrichtung bergmännischer Geduldsflaschen, insbesondere Arbeitsgeräte und Kleidung der Bergmänner, die immer in ihrer traditionellen Festtagstracht dargestellt sind, erlaubt die zeitliche und räumliche Einordnung, wie die Geologen Otto Fritz und Peter Huber in ihrem einzigartigen Katalog (1995) ausgeführt haben. Im Falle der Retzer Geduldsflasche deuten die Tracht der Bergmänner sowie das Pferdegöpel auf das Schemnitzer Revier in der heutigen Mittelslowakei hin.

Da sich die Festtagstracht der Bergmänner über einen langen Zeitraum hielt – so werden beispielsweise die Aufmärsche der Bergparaden im deutschen Erzgebirge auch heute noch in der alten Tracht begangen – eignet sie sich weniger zur genaueren Datierung der Retzer Geduldflasche. Sehr gut erlaubt dies jedoch die Kleidung der Dame vor dem Altar in der zweiten Etage und hier insbesondere ihre Haube, eine sogenannte Schute, die sich um 1800 aus der älteren Rokokohaube entwickelte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Kopf (der aufragende Teil der Haube) noch höher und die Krempe ausladender, bis sie in den 1840er-Jahren schließlich rund wurde. Die Dame trägt also ein Exemplar aus den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Pferdegöpel waren typisch für das Schemnitzer Revier in der heutigen Slowakei, wo sie schon seit dem frühen 16. Jahrhundert zur Förderung der Erze verwendet wurden. Eine genaue Beschreibung der Schemnitzer Pferdegöpel findet sich nicht nur in der "Akademischen Vorlesung über die zu Schemnitz in Niederhungarn errichteten Pferdegöpel" (1773) des Jesuiten Nikolaus Poda von Neuhaus (1723-1798), der an der Bergakademie zu Schemnitz Mathematik und Physik unterrichtete, sondern auch schon samt Zeichnung im „Goldenen Bergbuch“, das 1764 anlässlich der bevorstehenden Studienreise der Söhne Maria Theresias (1717-1780) der Prinzen Joseph (später Joseph II., 1741-1790) und Leopold (später Leopold II., 1747-1792) verfasst wurde. Bereits ihr Ehemann Franz Stephan von Lothringen (1708-1765), der in seiner ausreichenden Freizeit seinen Interessen an den Naturwissenschaften und hier insbesondere der Mineralogie nachgehen konnte, hatte 13 Jahre zuvor die sogenannte niederungarischen Bergstädte besucht.

Einen weiteren möglichen Hinweis darauf, dass hier die Stadt Schemnitz gezeigt wird, bietet die überdimensionierte Statue eines Knappen in der obersten Etage – sollte sie nicht gänzlich der Fantasie des Verfertigers dieses Eingerichts entsprungen sein: Elena Kašiarová und Elena Síkorá beschreiben den Entwurf eines monumentalen Denkmals im zentralen Minen-Archiv der Stadt Schemnitz aus dem Jahr 1751/51, das am Mundloch (Eingang) des Glanzenberger Erbstollen erbaut werden sollte – ohne allerdings auf die nähere Beschaffenheit dieses Monuments, das wahrscheinlich nie realisiert wurde, einzugehen. Tatsächlich befindet sich das Mundloch des Glanzenberger Erbstollens, der für den Wasserentzug der Schächte benutzt wurde, mitten in der Stadt Schemnitz, was der Darstellung in der Geduldsflasche entspricht. Hatte sich die Idee dieses Vorhabens ein gutes halbes Jahrhundert gehalten? Oder beanspruchte der Einrichter ein derartiges Monument für Schemnitz, etwa als Zeichen des bergmännischen Selbstbewusstseins? Denn dieses war mit Sicherheit vorhanden, denn bereits im Mittelalter gehörten die Bergleute zu den privilegierten Gruppen der Bevölkerung, schon in der Frühen  Neuzeit genossen sie soziale Errungenschaften wie Krankengeld, ärztliche Versorgung sowie Alters- und Witwenpension.

Die niederungarischen Bergstädte

Schemnitz (slowakisch: Banská Štiavnica, ungarisch: Selmec(z)bánya) zählte neben Kremnitz (Kremnica, Körmöc(z)bánya)und Neusohl (Banská Bystrica beziehungsweise Beszterc(z)ebánya) zu den wichtigsten der sieben sogenannten niederungarischen Bergstädte. Obwohl in allen Bergorten polymetallische Erze gefördert wurden, war das Schemnitzer Bergbaurevier für sein Silber bekannt, das Kremnitzer Revier für sein Gold und das Neusohler Revier, zusammen mit den anderen vier Bergstädten, für seine Kupfervorkommen. Nach einer ersten Blüte im Spätmittelalter wurde Schemnitz im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts Schemnitz auch nach internationalem Maßstab zu einem überaus bedeutsamen Bergbauzentrum, nicht nur aufgrund seiner Fördermengen, sondern auch dank der hochentwickelten Bergbautechnik und ihrer zahlreichen Innovationen. So wurde 1764, im Jahr des Prinzenbesuchs, die schon 30 Jahre zuvor gegründete Bergschule zur Bergakademie erhoben. Berühmtestes Mitglied der Lehrerschaft, das den ersten wissenschaftlichen Vortrag an der Akademie hielt und den beiden Herrschersöhnen Experimente in seinem Labor vorführte, war der Universalgelehrte Nikolaus Joseph Jacquin (1727-1817).

Darüber hinaus war Schemnitz zu jener Zeit nicht nur die größte Stadt des ungarischen Reichsgebietes, sondern auch Sitz der kaiserlichen Bergverwaltung. Das Berg- und Hüttenwesen nahm eine wichtige Rolle in den Staatsfinanzen des Habsburgerreiches ein. Tiefgreifende Reformen der habsburgischen Staatsverwaltung in den 1740er-Jahren führten zu einer Emanzipierung der höchsten Verwaltungsebene des staatlichen Berg- und Hüttenwesens von der „allgemeinen“ k. k. Hofkammer, der auch die ungarischen Bergwerke unterstanden. Dies war durchaus von politischer Bedeutung, da die niederungarischen Bergstädte sich somit außerhalb des Wirkungsbereiches der ungarischen Stände befanden.

Die Interessen des Habsburger Hofs waren also alles andere als lediglich wissenschaftlicher Natur, denn die finanziellen Einnahmen aus den ungarischen Edelmetall- und Kupferbergwerken waren immens und die Beziehungen zwischen der ärarischen (staatlichen) Montanverwaltung und den auf Autonomie pochenden Bergstädten keineswegs konfliktfrei, wie Peter Konečný in seiner Analyse der habsburgischen "Herrscher im Bergwerk" (2017) hervorhebt. So ist nicht nur die Reise von Franz Stephan I. im Jahr 1751, sondern auch die seiner beiden Söhne Joseph und Leopold im Jahr 1764 wirtschaftspolitisch zu deuten. Es galt die auf dem Landtag in Preßburg (heute slowakisch Bratislava, damals ungarisch Pozsony) wiederholt erhobenen Ansprüche der Ungarischen Hofkammer auf die Verwaltungshoheit über den staatlichen Bergbau abzuwehren und weiterhin die direkte Kontrolle der Wiener Zentralverwaltung zu sichern: Der Besuch des ungarischen Thronfolgers Joseph entkräftete somit auch auf symbolische Weise die Ansprüche des ungarischen Hochadels.

Auf welche Weise dieses niederungarische Flaschenbergwerk nach Retz gekommen ist, entzieht sich leider unserer Kenntnis, hierzu finden sich keine Unterlagen. Kann es eine mögliche Verbindung des berühmten Weinortes zu den Glashütten in der Nähe der Erzabbaustätten gegeben haben, die ja ihre Flaschen erstrangig für die Abfüllung von Wein produzierten? Die Nähe von Retz zu den mährischen Glashütten, die ab den 1820er-Jahren einen frischen Aufschwung erlebten, spricht eher dagegen. (Celine Wawruschka, 9.7.2019)

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