Für Laien ist die Hannover-Messe eigentlich sehr langweilig. Im Gegensatz zu anderen Technikmessen gibt es wenig zu sehen, anzugreifen, auszuprobieren. Das Einzige, was hier, auf der größten Industriemesse der Welt, für die Instagram-Story taugt, sind ein gitarrespielender Roboter, ein Tischtennisautomat und eine Installation aus Roboterarmen, die mit Laserschwertern zum Takt der "Star Wars"-Filmmelodie kämpfen.

Mit dem großen Thema, das nicht nur über der Veranstaltung, sondern der ganzen Industrie schwebt, haben diese Installationen wenig zu tun. Industrie 4.0 soll das nächste große Ding sein, aber die angebliche Revolution ist abstrakt, diffus und nicht fotogen. Und so gibt es in Hannover hinter den meisten Ständen der 6000 Aussteller nicht mehr zu sehen als Männer in Anzügen, die über kleine Geräte sprechen, die so aussehen wie Stromzähler im heimischen Sicherungskasten.

Ein gitarrespielender Roboter auf der Hannover Messe.
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Die ungreifbare Revolution

Sie sind das Gegenteil von den bildhaften Symbolen früherer Umwälzungen: Der automatische Webstuhl steht stellvertretend für die erste industrielle Revolution im 18. Jahrhundert, die Fließbandproduktion des Autoherstellers Ford für die zweite Anfang des vorherigen Jahrhunderts. Robotergreifarme stehen für den dritten großen Schritt, den die Industrie durchmachte, die Automatisierung. Geht es nach der Industrie, ist es wieder Zeit, die Branche umzukrempeln.

Acht Jahre ist es her, als man auf der Hannover-Messe begonnen hatte, werbewirksam die vierte industrielle Revolution heraufzubeschwören. Die Idee: Maschinen besser zu vernetzen und dadurch effizienter zu machen. Die kleinen, wenig aufregenden Geräte, die in Hannover in den Vitrinen liegen, sollen dabei helfen, selbst alte Maschinen untereinander kommunizieren zu lassen. Das Internet der Dinge, das in vielen Bereichen schon Standard ist, soll sich auch in der Fabrikhalle durchsetzen: Alles soll mit allem verbunden sein.

Ein politischer Begriff

"Die ursprüngliche Idee war es, individualisierte Produkte zu den Kosten der Massenfertigung zu produzieren", sagt Roland Sommer, Geschäftsführer der Plattform Industrie 4.0, ein Zusammenschluss aus Verkehrsministerium, Arbeiterkammer, Gewerkschaft und Industriefachverbänden. "Aber irgendwann ist der Begriff sehr breit geworden." Und auch politisch: Der Politik gehe es auch darum, die Old Economy wieder salonfähig zu machen.

Die Industrie erwartet sich jedenfalls viel von ihrer vierten Revolution, auch in Österreich. Laut der Strategieberatung PwC Strategy& versprechen sich die über alle Branchen hinweg befragten Unternehmer in Österreich eine durchschnittliche jährliche Effizienzsteigerung von 3,7 Prozent, die Herstellungskosten sollen durch die Industrie 4.0 um durchschnittlich 2,6 Prozent pro Jahr fallen.

In einigen Branchen ist das Automatisierungspotenzial besonders hoch
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Digitale Zwillinge

Zu den vielen Innovationen, für die der Begriff Industrie 4.0 inzwischen herhalten muss, gehört auch "predictive maintainance". Bisher war es so, dass eine Maschine repariert wurde, wenn sie kaputtging. Bis der Techniker kam, stand die Produktion aber oft still. In der Fabrik der Zukunft soll eine Maschine Fehlfunktionen schon vorher erkennen und automatisch Hilfe holen, ohne dass es zu Unterbrechungen kommt.

Digitale Zwillinge sollen Produkte und ganze Produktionsketten virtuell abbilden, bevor die erste Maschine steht. Teure Prototypen könne man sich in Zukunft oft sparen, erklärt Sommer. Und in der Produktion würde die Qualitätskontrolle in jedem Produktionsschritt und nicht erst zum Schluss erfolgen.

Roboter-Käfighaltung vorbei

Auch die Roboter sollen in der Industrie 4.0 entfesselt und an Menschen gewöhnt werden. Roboter werden zwar schon seit langem in Fabriken eingesetzt, aber momentan vor allem in Käfigen gehalten. Zu gefährlich ist ihre rohe Maschinengewalt, wenn ihnen jemand in die Quere kommt. Roboter und Menschen arbeiteten deshalb hauptsächlich getrennt voneinander. In Zukunft sollen Leichtbauroboter ihren menschlichen Kollegen zur Seite stehen, ohne sie zu verletzen. Dafür müssen sie allerdings selbst denken lernen, wo künstliche Intelligenz ins Spiel kommt. Eine der vielen Hilfstechnologien, auf die sich die Industrie 4.0 stützt.

Auch 5G, der neue Mobilfunkstandard, auf den die Industrie schon lange drängt, soll die Entwicklung beschleunigen. Denn irgendwie wollen die enormen Datenmengen, welche die unzähligen Sensoren generieren, auch übertragen werden. Nicht alles davon muss in der Cloud landen. In letzter Zeit gewinnt Edge Computing an Bedeutung, zum Teil auch aus Misstrauen gegenüber den Internetriesen. Dabei bleiben kritische Daten im Unternehmen, während große Mengen weniger wichtiger Daten bei Google, Amazon und Co gespeichert werden.

In Zukunft werden Menschen und Maschine noch enger zusammenarbeiten.
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Wo bleibt der Mensch?

Roboter da, Automatisierung, Vernetzung dort – aber was passiert eigentlich mit den Menschen? Sind sie in der Fabrik der Zukunft überhaupt noch erwünscht? Sebastian Schlund, Leiter des Forschungsbereichs Mensch-Maschine-Interaktion an der Technischen Universität Wien, glaubt nicht daran, dass sich die menschenleere Fabrik flächendeckend durchsetzen wird. In vereinzelten Branchen sei das zwar jetzt schon fast Realität, in vielen anderen sei man aber weit davon entfernt.

Menschen in der Industrie müssen sich aber wohl darauf einstellen, noch mehr mit Robotern und Algorithmen zusammenzuarbeiten. Je mehr man Mitarbeiter einbindet, desto besser funktioniere die Transformation. Das sei allerdings ein "bisschen schwierig geworden", viele Studien hätten Hiobsbotschaften von jobstehlenden Robotern verbreitet. "Das entbehrt jeglicher Grundlage", sagt Schlund. Nur wenige Bereiche wie die Maschinenbedienung hätten großes Substitutionspotenzial. In vielen anderen bleiben Menschen zwar nicht günstiger, aber flexibler als jeder Roboter.

Und auch Maschinen sind nicht unfehlbar. Immer mehr Unternehmen entlassen ihre Roboter wieder. So etwa im ersten japanischen Roboterhotel, wo der Betreiber die Hälfte der Roboter hinauswarf und wieder durch Menschen ersetzte. Toyota und Daimler stellen seit einigen Jahren wieder mehr Menschen an. Auch Elon Musk gab letztes Jahr zu, dass die Lieferschwierigkeiten beim vergleichsweise günstigen Model 3 darauf zurückzuführen sind, dass er sich zu sehr auf Roboter verlassen habe. "Menschen sind unterbewertet", tweetete er. (Philip Pramer, 22.7.2019)