Das Zunge zeigen zählt in der TCM zur ärztlichen Routine. Die Zunge ist hier nicht nur Sinnesorgan, sondern auch Diagnoseinstrument.

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In der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) dient die Zunge als Spiegel der Gesundheit. Nach dem Motto: "Zeig mir deine Zunge, und ich sage dir, wie es dir geht." Bei der sogenannten Zungendiagnose ziehen TCM-Mediziner aus Größe, Farbe und Belag des Organs Rückschlüsse auf den gesundheitlichen Zustand des gesamten Körpers.

"Meistens sind die Leute im ersten Moment sehr überrascht, wenn man sie auffordert, die Zunge rauszustrecken", sagt Doris Verena Baustädter, Allgemeinmedizinerin und Leiterin der Wiener Schule für TCM. Für Baustädter ist die Zungendiagnostik eine grundlegende Methode, um einen Einblick in den Gesundheitszustand ihrer Patienten zu bekommen. "Zuerst führe ich ein ausführliches Gespräch, dann erst schaue ich mir die Zunge an. Durch den Blick auf die Zunge können gesundheitliche Probleme oft schon entdeckt werden, bevor sich überhaupt die ersten Symptome manifestieren", erklärt die Ärztin. Durch die Verbindung von Zungen-, Puls- und Syndromdiagnostik werden so Rückschlüsse auf das Gesamtsystem gezogen.

Im Idealfall sollte die Zunge blassrot, also leicht gerötet sein. "Das heißt, dass das Blut gut zirkuliert und genügend Qi (Energie) vorhanden ist", sagt Baustädter. Ist das Organ hingegen stark gerötet, so spricht das in der TCM für zu große Hitze im Körper. Das kann unterschiedlichste Ursachen haben: Stress, falsche Ernährung, zu wenig Schlaf und Ruhe oder auch längerfristig zu heiße Temperaturen.

Guter Belag, böser Belag

Ist die Zunge hingegen zu blass, so wird das auf einen Mangel an Qi, Blut oder aber auf innere "Kälte" zurückgeführt. "Innere Kälte hat ihre Ursachen ebenfalls häufig in einseitiger Ernährung, Stress, Erschöpfung oder klimatischen Bedingungen", sagt Baustädter. Eine violett oder bläulich verfärbte Zunge deute wiederum auf "Stagnation" im Körper hin. "Diese Stagnation ist eine Störung des freien Flusses von Qi und Blut. Schmerzen, aber auch Druck- und Engegefühl sind eine häufige Folge", erklärt die TCM-Ärztin.

Im Normalfall sollte die Zungenoberfläche außerdem von einem dünnen, weißen Belag überzogen sein. "Eine Zunge ganz ohne Belag zeigt eine Störung mit Mangelmustern an." Dicker, weißer oder gelber Belag deute hingegen auf ein Ungleichgewicht mit Überfluss im Körper hin. "Dies hat seine Ursache oft im Verdauungssystem, ein Problem bei der Transformation von Nahrung in Qi", sagt Baustädter.

Wichtig ist auch der Bereich, in dem die Zungenveränderungen auftreten. Verschiedene Areale der Zunge werden in der TCM den verschiedenen Organen im Körper zugeordnet. "Die Zungenspitze steht für das Herz, der Bereich dahinter für die Lunge, der Mittelteil für den Magen und die Verdauung, die Ränder für die Leber und die Zungenwurzel für Niere und Dickdarm", so die Ärztin. Pathologische Verfärbungen und Veränderungen an diesen Stellen werden so den jeweiligen Organen zugeordnet.

Keine Panik

Abhängig davon, was die Ärztin durch Befragungen, Zungen- und Pulsdiagnose herausfinden konnte, wird der Patient anschließend mit Arzneipflanzen, Ernährungs- und Bewegungsempfehlungen, chinesischer Massage oder Akupunktur behandelt. "Die TCM-Zungendiagnose ist eine sehr elegante, schnelle und aussagekräftige Methode. Sie sollte auch vermehrt in die westliche Medizinpraxis integriert werden", wünscht sie sich.

Baustädter zufolge sollte man aber nicht in Panik geraten, wenn die Zunge einmal einen seltsamen Belag oder eine Verfärbung aufweist. "Sich durch Selbstdiagnosen zu verunsichern ist keine gute Idee", betont sie. Besser sei es, sich von TCM-Spezialisten beraten zu lassen und – falls nötig – geeignete Therapieschritte zu setzen.

Fachärztliche Zweifel

Vertreter der evidenzbasierten Medizin bezweifeln jedoch die Wirksamkeit vieler Behandlungsmethoden der TCM. Auch Markus Brunner von der HNO-Klinik der Med-Uni Wien steht der Zungendiagnostik skeptisch gegenüber. Er ist nicht der Meinung, dass sie mehr Beachtung in der westlichen Medizin finden sollte. "Nur anhand des Aussehens der Zunge eine Krankheit eindeutig zu diagnostizieren, ist in den allerwenigsten Fällen möglich. Die Inspektion der Zunge liefert aber manchmal relevante Zusatzinformationen in Kombination mit anderen Untersuchungen", erläutert Brunner.

Bei einigen Erkrankungen komme es zwar zu Symptomen, die sich auch auf der Zunge manifestieren, nur vom Belag allein könne allerdings nicht auf Krankheitsbilder geschlossen werden. "Das liegt vor allem an den enormen Unterschieden des Erscheinungsbildes der Zunge, auch bei gesunden Menschen. So wirken manche Zungen immer weißlich belegt, andere haben tiefe Furchen, flächige weiße Areale oder sind praktisch schwarz. All das ohne eine Erkrankung", betont Brunner. (Katharina Janecek, 17.8.2019)