Sie sitzt ihrem Mann im Nacken. – oder thront auf ihm: Bibiana Beglau und Norman Hacker.

Foto: Andreas Pohlmann

Wie scharf schmeckt Edward Albees Drama von 1962 heute noch? Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ist der Traum jedes Barkeepers. Auch Martha und George gießen ihr gemeinsames, schon recht trockenes Liebespflänzchen ausschließlich mit Hochprozentigem.

Im Wiener Burgtheater läuft ein Steg über die Bühne. Er wird scharf begrenzt von einer klinisch weißen Wand (Ausstattung: Jessica Rockstroh). Zu Füßen der unentwegt durstigen Albee-Figuren aber gähnt ein Abgrund. In ihn werden die kaum leergetrunkenen Gläser geworfen. Willkommen zur Deponie der zerbrochenen Herzen! In ihr landen unterschiedslos Scherben und Schlucke. Eben alles, was nicht mehr den Weg zu Herz und Hirn, zu Nieren und Leber hat finden können.

Formschöne Inszenierung

Dabei reizen die Figuren in Wer hat Angst vor Virginia Woolf? einander bis aufs Blut. In dieser unbedingt formschönen Inszenierung aus dem Münchner Residenztheater wird das berühmte Boulevardgemetzel, Vorbild für alle Wohnzimmerschlachten bis herauf zu Martin Crimp, zum Laborbericht umstilisiert. Martin Kušej hat Albees Kriegserzählung aus dem Ehenotstandsgebiet bereits 2014 inszeniert. Als Mitbringsel aus München macht der Abend einigen Eindruck.

Martha (Bibiana Beglau) sitzt ihrem Gemahl (Norman Hacker), einem verwahrlosten Geschichtsdozenten, wie eine Furie im Nacken. Praktikablerweise hält sie ihn mit ihren Schenkeln gefesselt. Vor allem aber macht sie George, der den Whiskey wie Blockmalz im Mund herumwälzt, am liebsten zur Sau. Bevorzugt vor Gästen, die bei diesem Wettkampf um die Krone der Gemeinheit tapfer mithalten.

In Dampf und Wahnsinn

Ein Partyabend am Campus klingt zuhause aus. George hätte jetzt gerne seine Ruhe gehabt (und seinen letzten Absacker geschlürft). Doch ein junges Ehepaar hat sich angesagt. Der blonde Biologe (Johannes Zirner), kalt bis ans Herz, überbietet noch das in Dampf und Wahnsinn aufgelöste Gastgeberpaar. Er und sein naives Weibchen (Nora Buzalka) werden bald die Rollen der beiden versoffenen Alten einnehmen.

Doch bevor es so weit ist, muss noch eine Partie Bäumchen-wechsle-dich gespielt werden. Das fortlaufend sich entrollende Band der Gemeinheiten hat Kusej in lauter Stücke geschnitten. Kaum ist eine Szene an ihrem Kulminationspunkt angelangt, fällt sie hinab in ein schwarzes Nichts. Der Effekt dieser Stilisierung ist bestürzend: Zuerst meint man, einer Tragödie von Heinrich von Kleist sehr unbehaglich beizuwohnen. Doch mit der Zeit ist einem Marthas Königinnengemeinheit, ihre Mixtur aus edlem Wuchs und bösem Tun, auch ein bisschen gleichgültig.

Hoch und intensiv

Immerhin: Beglau, die prima inter pares dieses recht kunstgewerblichen Abends, wird die Ära Kušej nachhaltig rocken! Das Hohe, Königinnenhafte verschmilzt bei ihr mit beispielloser Intensität. Sie wirbt mit sorgsam bloßgelegter Schulter um den eigenen Gemahl. Im nächsten Augenblick gebraucht sie ihre Nacktheit, ihre grelle Dämonie, wie schmerzende Erkenntnismittel. Alles an der Beglau strotzt vor Kraft. Das passt gut zu einem Regisseur wie Kušej, der lieber überdeutlich wird, bevor er Gefahr läuft, missverstanden zu werden.

Die "Teufelsaustreibung" ("The Exorcism") lässt nur Beschädigte zurück. Marthas und Georges gemeinsames Projekt, die aufrechterhaltene Illusion eines gemeinsamen Sohns, ist zerstört. Die Whiskeyvorräte vieler Jahrgänge aus Kentucky sind aufgebraucht, mit ihnen zusammen alle verbliebenen Aussichten auf Eheglück und Waffenstillstandsruhe.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ist so alt wie der beste Bourbon. Im Burgtheater kann man die Scherben noch einmal zusammenlesen. Jetzt wird es aber Zeit für modernere, noch schärfere Getränke! Der Applaus war insofern nicht nur freundlich, sondern von echter Vorfreude bestimmt. (Ronald Pohl, 15.9.2019)