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Es piepst, es blinkt und scheinbar ist alles unter Kontrolle: Doch jeden Moment kann der Supergau ausbrechen. Wer Dienst hat, muss immer auf eine Reanimation gefasst sein.

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Warren Belt hat zwölf Jahre seines Lebens unter Wasser verbracht. "Sieben Weihnachten und die Geburt eines meiner Kinder habe ich versäumt", erzählte der ehemalige Kapitän eines US-Atom-U-Boots bei seinem Vortrag anlässlich des Innsbrucker Forums für Intensivmedizin und Pflege (IFIMP).

Veranstalterin Barbara Friesenecker hat ihn eingeladen, damit Intensivmediziner Einblick in Welten bekommen, in denen die Anforderungen ähnlich wie die auf einer Intensivstation sind, was auf Kriegsschiffen der Fall ist. Intensivmediziner sollen dadurch den Blick über den Tellerrand lernen, das ist das Ziel dieser sogenannten Benzer-Lectures, die Friesenecker organisiert. "Wir hatten auch schon den Kommissar Rex-Autor bei uns, um über Morde im Fernsehen zu reden."

Unbekanntes planen

Auf Kapitän Belt kam die stellvertretende Leiterin der Intensivmedizin an der Universitätsklinik Innsbruck über ihren Bruder, der bei der Schweizer Bank UBS tätig ist. Dort heuerte Belt nach seinem Ausscheiden aus der US-Navy als Riskmanager an. Dank seiner 22-jährigen Erfahrung als General an Bord von Atom-U-Booten brachte er dort neue Aspekte zum Thema ein.

Doch erst einmal erzählt Belt ein bisschen aus seinem Leben. Seine Tätigkeit als Kapitän sei fast ausschließlich friedlich gewesen. Das Hauptaugenmerk beim Steuern eines U-Boots liege weniger auf Kriegsführung als auf der Planung diverser Notfallszenarien. Das ist auch für sein aktuelles Arbeitsfeld relevant. "Eine Bank wie die UBS plant permanent ihren eigenen Untergang und wie man da wieder rauskommt" , so der Ex-General. Dann schwenkt er zur Medizin. Auch hier geht es darum, auf den Katastrophenfall vorbereitet zu sein.

In Innsbruck wollen die Intensivmediziner von Belt wissen, wie er in seiner ehemaligen Profession mit schwierigen Situationen umging, und vor allem, wie er sich und seine Mannschaft darauf vorbereitete.

Immer im Stress

Denn die Parameter, nach denen auf Intensivstationen und in U-Booten gearbeitet wird, sind letztlich gar nicht so verschieden. "Schlafmangel, viele Personen auf engem Raum, all das gepaart mit Stress, und dann noch die richtigen, überlebenswichtigen Entscheidungen zu treffen. Das ist die große Kunst", vergleicht die Anästhesistin Friesenecker die beiden Welten über und unter Wasser. Um diese prekären Umstände zu meistern, ist Führungsqualität entscheidend.

"Man kann unsere Tätigkeit durchaus mit der eines U-Boot-Kapitäns vergleichen", bestätigt Benedikt Treml, Oberarzt für allgemeine und chirurgische Intensivmedizin an der Universitätsklinik Innsbruck. Er ist Mitorganisator des IFIMP und entdeckt in Belts Ausführungen Parallelen zu seinem Berufsalltag: "Auch Intensivpatienten fahren tage-, wochen-, ja leider oft sogar monatelang sozusagen unter Wasser. Und zwar in dem Sinne, dass sie in einem chronisch kritischen Erkrankungszustand sind."

Plötzlicher Zwischenfall

Während die U-Boot-Crew ihren Navigationskurs plant, erstellen Intensivmediziner Behandlungsfahrpläne. "Und dann tritt plötzlich ein Zwischenfall ein. Der Zustand des Patienten wird kritisch, und plötzlich müssen sehr rasch Entscheidungen getroffen werden, die das Leben retten" , so Treml.

In der Praxis bedeutet das ein Wechselbad. Der Großteil der Zeit geht in der Intensivmedizin mit Routinearbeiten drauf. Sie werden deshalb auch im Fachjargon "hours of boredom", also "Stunden der Langeweile" genannt. Doch von einer Sekunde auf die andere kann eine Situation lebensbedrohlich werden. Es sind die sogenannten "minutes of thrill and seconds of panic", also die Augenblicke der Anspannung und die Schrecksekunden, die dann gemeistert werden müssen. Die Situation sei mit einem U-Boot in den Tiefen des Meeres durchaus vergleichbar. Meistens schwebt man lautlos einem Ziel entgegen, doch dann plötzlich kommt es zu Katastrophen, etwa einem Wassereinbruch oder eben einem Angriff.

Ruhe bewahren

Genau für diese Minuten der Spannung und Sekunden der Panik müssen Intensivmediziner wie auch U-Boot-Besatzungen gerüstet sein. Die Kernkompetenz ist also, unter enormem Druck richtig zu handeln. Erschwerend in beiden Berufen: das Phänomen der Überreiztheit und Überempfindlichkeit. "Ständig piepst und lärmt etwas auf der Intensivstation. Gleichzeitig ist man als Arzt aber mit vielen Fragen von Kolleginnen und Kollegen konfrontiert", berichtet Treml. Die große Herausforderung bestehe nun darin, mit sehr viel Informationsinput umgehen zu können. "Wir müssen aus alldem, was auf uns einprasselt, die relevante Information herausfiltern", so Treml. Ex-Kapitän Belt beschreibt seinen Alltag unter Wasser ähnlich: "Die Instrumente versorgen uns mit unzähligen Informationen zum Status des Schiffs. Die Besatzung muss daraus permanent relevante Informationen filtern."

Eine weitere Parallele zwischen Spital und U-Boot sei die Schichtübergabe. Ex-Kapitän Belt erzählt den Medizinern und Medizinerinnen, wie akribisch der leitende Offizier jeweils eine Stunde zu Beginn und am Ende seiner sechsstündigen Schicht am U-Boot damit verbringt, sämtliche Informationen aus allen Abteilungen zu sammeln, die für seinen Dienst von Bedeutung sind. "Das ist bei uns genau so, nur dass wir sogar jeweils anderthalb Stunden darauf verwenden", kontert Friesenecker. Dies sei notwendig, um die Kollegen der jeweils folgenden Schicht über zu erwartende Komplikationen zu informieren. Allerdings erledigen die Mediziner diese Vor- und Nachbereitung zusätzlich. Dadurch dauere die offizielle 24-Stunden-Schicht auf der Intensivstation meist 27 Stunden.

Umsichtige Führung

Das besondere Interesse der Intensivmediziner galt Belts Ausführungen zum Thema Leadership und Fehlerkultur. Er berichtete von einem verheerenden Unfall, nach dem die US-Navy ihre hierarchischen Strukturen hinterfragt und in dem Bereich viele Neuerungen eingeführt hat.

Anlass war die Kollision des Atom-U-Boots USS Greeneville mit einem japanischen Fischerei-Ausbildungsschiff 2001. Das japanische Schiff sank binnen Minuten, und neun Menschen starben. Wie die internen Untersuchungen der Navy ergaben, war der Unfall in erster Linie darauf zurückzuführen, dass niemand an Bord des U-Bootes es wagte, dem angesehenen und erfahrenen Kapitän zu widersprechen. Obwohl den Untergebenen bewusst war, dass er Fehlentscheidungen getroffen hatte. Die strenge Hierarchie im militärischen System hat dieses Schweigen bedingt.

Jeden ernst nehmen

Auch auf Intensivstationen ist diese Hörigkeit von Jüngeren gegenüber Älteren oft problematisch. "Wer oben ist, will den Weg dorthin für andere nicht ändern", bestätigt Friesenecker . Denn dieser Weg nach oben war für die meisten hart, daher seien etablierte Ärzte oft resistent gegen Vorschläge oder Anregungen jüngerer Kollegen, die Verbesserungspotenziale oder gar Fehler erkennen. "Der Jüngste muss das Maul halten und hat gar nichts zu sagen. Diese Einstellung ist in unserem medizinischen System leider immer noch weitverbreitet", bringt es Friesenecker auf den Punkt, eine Führungskultur, die gerade in so sensiblen Bereichen wie der Intensivmedizin verheerende Folgen haben kann. Die Frage sei, wie man es schaffen könne, diese verkrusteten Systeme aufzubrechen, damit auch Medizinstudenten zu Wort kommen können.

Was Friesenecker und Treml vom U-Boot-Kapitän gelernt haben? Das Verwenden von Merkhilfen, um Routineszenarien permanent zu trainieren: "Ich klebe mir einen Zettel zum Thema 'Wie animiere ich richtig' an die Wand. Den sehe ich ständig. Wenn ich reanimieren muss, schaue ich im Nachhinein, ob ich alles richtig gemacht habe. Auf diese Idee wären wir nie gekommen, sie ist aber plausibel, um Abläufe zu festigen." Damit werde man gleich beginnen. "Unsere Patientenversorgung ist sehr gut, aber wir wollen exzellent werden." (Steffen Arora, 5.10.2019)