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Wo der Verstand nicht genügend richtungsweisende Informationen hat oder überfordert ist, kann das Bauchgefühl ein wichtiger Hinweisgeber sein.

Foto: Getty Images/Science Photo Libra

Er entwickelte die Relativitätstheorie, leistete wesentliche Beiträge zur Quantenphysik und verließ sich dabei wesentlich auf seine Intuition. Sie sei "alles, was zählt", sagte Albert Einstein. Auch andere Wissenschafterinnen und Wissenschafter setzen auf ihr Bauchgefühl, etwa der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger. Er ist überzeugt: "Das wirklich Neue kann nur durch Intuition kommen." Doch was ist Intuition genau? Lässt sie sich auch im Beruf einsetzen? Und wie kann man sie trainieren?

Intuition wird ganz unterschiedlich definiert. Der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer sieht sie etwa als "Intelligenz des Unbewussten". Sie beruhe auf Erfahrungen, die wir gemacht und in uns gespeichert haben. Unsere Intuition ermögliche es, auf diesen Erfahrungsschatz zurückzugreifen, "ohne gleich zu analysieren, zu klassifizieren und zu bewerten", sagt die finnische Intuitionsforscherin Asta Raami.

Alexis Champion ist Leiter der Schule für Intuition "Iris" in Paris. In Seminaren lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Zugang zu ihrem Bauchgefühl zu bekommen. Champion, der auch Workshops für Führungskräfte abhält, begreift Intuition als eine "innere Stimme" oder auch als das Gegenteil des Verstandes. Sie sei ein wichtiger Entscheidungshelfer, auch im Beruf. Besonders hilfreich sei diese innere Stimme beispielsweise, wenn es schnell gehen muss. Eine Ärztin in der Notaufnahme etwa hat oft keine Zeit, alle Informationen über einen Patienten zu sammeln und dann zu überlegen, wie sie ihn behandeln soll. Sie entscheidet aus dem Bauchgefühl heraus. "Der Verstand bräuchte um einiges länger, um zu einer Lösung zu kommen", sagt Champion.

Dieser Text ist im Magazin Der Standard Karriere am 10.10.2019 erschienen. Erhältlich ist das Magazin hier.

Nützlich könne die Intuition auch in Situationen sein, in denen man sein Ziel kennt, aber nicht genau weiß, wie man dort hingelangt. Champion bringt eine Analogie aus dem Straßenverkehr: "Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Kreuzung, und Sie haben keine Ahnung, wie Sie abbiegen müssen. Rechts oder links?" Wo der Verstand nicht genügend richtungsweisende Informationen hat oder überfordert ist, sei die Intuition ein guter Wegweiser. Übrigens auch, wenn viel zu viele Informationen vorhanden sind und ihre Auswertung schwierig wäre.

Auf den Bauch hören

Das mache auch deutlich, warum Intuition auch in der Unternehmensführung immer wichtiger werde, sagt Champion: Firmenchefs hätten immer weniger Zeit für Entscheidungen, sie müssten viele Informationen berücksichtigen, wüssten um ihr Ziel, aber oft noch nicht wirklich, wie sie hingelangen sollen. Studien aus den USA zeigten, dass Führungskräfte, deren Unternehmen besonders gut performen, häufiger als andere Menschen auf ihre Intuition zurückgreifen. Außerdem würden jene, die ihr Bauchgefühl regelmäßig einsetzen, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in hohe Positionen aufsteigen. "Sie sind offenbar erfolgreicher als der Durchschnitt."

Dennoch hat die Intuition nach wie vor keinen guten Ruf. Entscheidungen sollen in der Geschäftswelt auf Fakten beruhen und gut begründbar sein. Das hat laut Champion vor allem historische Gründe: Der Verstand habe lange Zeit als einzig ernstzunehmende Entscheidungsgrundlage gegolten. Wer sagte, dass er sich auf seine Intuition verlasse, wurde belächelt. Und alles, was nicht rational war, wurde verunglimpft und ausgeklammert.

Zumal die Intuition dem "unterlegenen" Weiblichen und der Verstand dem "überlegenen" Männlichen zugeordnet wurde. Nun, da die Gesellschaft sich verändere und mehr für Gleichberechtigung unternommen werde, könnte das der Akzeptanz der Intuition nützen, so Champions Hoffnung.

Aber nicht alle sehen die Intuition so positiv wie er. Beispielsweise mahnt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, wie leicht Bauchentscheidungen zu verzerrtem Denken, voreiligen Schlüssen und Vorurteilen führen können. Verantwortlich dafür sei aber nicht die Intuition, erwidert Champion, sondern alte Gefühle, Projektionen oder Ängste, "die die Intuitionen deformieren". Wichtig sei es deshalb, sich all dieser unbewussten Gefühle bewusst zu werden.

Intuition trainieren

Und wie kann die Intuition nun trainiert werden? Für Alexis Champion liegt der Schlüssel in der Wahrnehmung. Denn Intuition sei "die pure Wahrnehmung". Seine Methode heißt "intuition du corps", und dabei geht es darum, den Zugang zu seinen körperlichen Signalen zu stärken. Denn über ihren Körper nehmen Menschen ihre Umwelt als Erstes wahr – der Tastsinn ist der erste Sinn, den ein Kind im Mutterleib entwickelt.

Eine Übung ist daher, mit geschlossenen Augen ein Objekt in die Hand zu nehmen und es abzutasten. Wie fühlt es sich an? Welche Form hat es, und wie ist es beschaffen? Dieser Zugang erscheint nicht unlogisch, wenn man annimmt, dass die Erfahrungen, auf die man intuitiv zurückgreift, im Körper gespeichert sind. Wichtig sei, nicht gleich zu analysieren, sondern ganz einfach wahrzunehmen, was ist. Das sei nicht immer leicht in einer Welt, die sehr vom Verstand getrieben ist, räumt Champion ein.

Ähnlich kann man übrigens auch an eine neue Idee herangehen. Anstatt sofort den Verstand einzuschalten und abzuwägen, was am Markt erfolgreich sein könnte, solle man sich fragen: Wie soll es sein, dieses neue Produkt? Bewertungen sind nicht erlaubt, sie hemmen die Kreativität.

Der Verstand kommt bei dieser Methode genau zweimal zum Einsatz: vor dem intuitiven Prozess und danach, wenn es um die Umsetzung geht.

Die Intuition ist also das Wissen, die Erfahrungen, die im Unbewussten gespeichert werden und auf die wir zugreifen können. Eine Art innere Stimme, die einem bei einer Entscheidung Hinweise gibt. Sie kann vor allem dort weiterhelfen, wo der Verstand versagt. (Lisa Breit, 20.12.2019)