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Beim Thema Migration trennen eine potenzielle türkis-grüne Regierung Welten. Und auch sonst dominieren, wenn es um Zuwanderung geht, meist die Emotionen. Lassen wir sie einmal weg. Was können wir von der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur über das Thema lernen? Ein Blick rein durch die ökonomische Brille.

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Drei Männer am Weg von Niger nach Algerien.
Foto: AP / Jerome Delay

1. Migration ist gut für eine Volkswirtschaft.

Wenn es um ein paar Zehntelprozent mehr Wirtschaftswachstum geht, werden über Jahre komplizierte Handelsverträge ausgeschnapst. Mit Migration könnte man wesentlich höhere Zugewinne erzielen. Es liegen sprichwörtlich Milliarden Dollar auf dem Gehsteig herum, schreibt der Ökonom Michael Clemens. Man müsste sich nur bücken und sie aufheben, also die strengen Zuwanderungsbestimmungen lockern.

Das Argument von Clemens und anderen: Wenn ein Mensch von einem ärmeren Land in ein reicheres zieht, ist er automatisch produktiver. Jemand aus Haiti kann etwa in Österreich wesentlich mehr produzieren. Über die Wirtschaftsleistung und damit den Reichtum eines Landes bestimmt zum Gutteil die sogenannte Produktivität, wie viel ein Mensch oder eine Maschine also in einer gewissen Zeit produziert.

Die wird von Rahmenbedingungen bestimmt, die der oder die Einzelne nicht beeinflussen kann. In Haiti ist es schwieriger, einen guten Job zu finden oder ein Unternehmen aufzubauen. Mehr Migration führt daher zu Wachstum der Weltwirtschaft.

Migration ist aber nicht nur von Vorteil, wenn man die ganze Welt betrachtet. Doch für die Länder, die Migranten aufnehmen, geht die Rechnung auf. Unter Forschern gibt es mittlerweile einen Konsens, dass Migration wirtschaftlich gesehen für die Zielländer von Vorteil ist, schreibt Vincenzo Bove von der University of Warwick. Der dämpfende Effekt auf die Löhne der Einheimischen ist meist gering und begrenzt.

Der Harvard-Ökonom Alberto Alesina schreibt in einer Arbeit, dass Migration ein Gewinn für das Wirtschaftswachstum sei. Diversität ist demnach gut für ökonomische Entwicklung, da sie mehr Ideen und Know-how schafft und Dynamik in die Länder bringt. Auch wenn es Probleme mit der Sprache gebe oder Misstrauen herrsche, würden die positiven Effekte überwiegen.

2. Migration ist für einige ein Weg aus der Armut.

Auf der Welt gibt es in etwa noch 600 Millionen Menschen, die in extremer Armut leben. Das heißt, sie haben am Tag weniger als 1,90 Dollar zur Verfügung. NGOs haben Programme entwickelt, die sie nachhaltig aus der Armut hieven. Die NGO Brac aus Bangladesch, eine der größten der Welt, investiert zum Beispiel pro Person 4500 Dollar. Danach verdienen sie jährlich um 340 Dollar mehr, also fast einen Dollar am Tag.

Das ist ein Zins von sieben Prozent, hat der Ökonom Lant Pritchett ausgerechnet. In einer Studie rechnet er vor, welchen "Zins" man mit Migration erreichen könnte. Wer keinen Schulabschluss hat und von Nigeria in die USA auswandert, verdient im Durchschnitt statt 1200 Dollar im Jahr plötzlich 19.000 Dollar. Etwa mit einem einfachen Hilfsarbeiterjob, für den keine Ausbildung nötig ist.

Die Migration erhöht den materiellen Lebensstandard um 1500 Prozent, ist also mehr als 200-mal effektiver als das teure, aber effektive Programm der NGO Brac, das als die beste Art von Entwicklungshilfe für einzelne Haushalte gilt, die wir kennen.

Massenmigration ist natürlich keine Lösung für globale Armut. Aber sinnvolle, legale Wege für einige ärmere Menschen zu schaffen, hält Michael Clemens für realistisch. Die deutsche Entwicklungshilfe, GIZ, qualifiziert etwa in Serbien Krankenpfleger. Die Menschen werden geprüft, lernen Deutsch und können danach nach Deutschland migrieren.

Damit auch die Länder vor Ort etwas davon haben, zahlt Deutschland auch andere Ausbildungen, etwa Lehrausbildungen für Mechatroniker. Das hält Mathias Czaika, Migrationsforscher an der Donau-Uni in Krems, auch für Österreich für sinnvoll.

3. Migration hilft auch den Herkunftsländern.

Lange dominierte in der Wissenschaft die Debatte um den sogenannten Brain-Drain. Damit ist gemeint, dass ärmere Länder unter dem Wegzug von Fachkräften leiden. Heute ist man mit dem Thema in der Forschung viel weiter und eher der Ansicht, dass das Gegenteil der Fall ist: Brain-Gain.

Wenn jemand darüber nachdenkt, ob er oder sie eine Fachausbildung oder ein Studium machen soll, fließt in die Kalkulation mit ein: Was bringt's mir? Wer also kaum eine Chance hat, eine Ausbildung in einen guten Job umzumünzen, macht sie nicht.

In manchen ärmeren Ländern, in denen es keine wirkliche Industrie oder gute Jobmöglichkeiten gibt, ist die Aussicht auf Migration ein zusätzlicher Anreiz, sich weiterzubilden. Auch wenn manche weggehen, kann der Bildungsstand der Bevölkerung insgesamt höher sein als ohne Migrationsaussicht. Welcher der beiden Effekte dominiert, hängt von der Politik im Herkunftsland ab, schreibt der Ökonom Frédéric Docquier.

Dazu kommt, dass Migranten viel Geld nach Hause schicken, zu ihren Familien und Freunden. In den ärmsten Ländern macht das mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung aus. In Summe profitieren diese Länder also von Migration, auch weil viele irgendwann wieder nach Hause kommen. In Indien sind viele erfolgreiche Gründer von IT-Firmen Inder, die in den USA gelebt und gearbeitet haben.

Kann Migration also Länder vielleicht sogar aus der Armut hieven? Der niederländische Forscher Hein de Haas sagt: Nein. Nur wenn ein Land ohnehin auf einem guten Weg sei, können Geld und Know-how von Migranten zusätzlich helfen. Funktioniert ein Staat kaum, helfe auch Migration nicht.

4. Migration wird durch Hilfen nicht weniger.

Helfen wir den Menschen vor Ort, müssen sie nicht mehr zu uns kommen. Außerdem kauft ein Euro in einem ärmeren Land deutlich mehr als hier. So oder so ähnlich hört man das immer wieder von Politikern, und es klingt auf den ersten Blick auch sehr plausibel. Einziges Problem: Die wissenschaftliche Literatur sieht das anders.

Der Migrationsforscher Michael Clemens hat den Stand der Forschung in einem Papier des Center for Global Development zusammengefasst und kommt zum Ergebnis: Bis zu einem gewissen Niveau an materiellem Wohlstand führt wirtschaftliche Entwicklung zu mehr, nicht zu weniger Migration.

Entwickelt sich ein Land wirtschaftlich, sorgt das für Dynamik. Neue Industrien entstehen, alte verschwinden. Es gibt viele neue Jobs, die Menschen ziehen vom Land in die Städte. Wohlstand macht mobiler, die Erwartungen steigen. Häufig lassen sie sich nicht sofort im eigenen Land erfüllen, und mehr Menschen denken an Migration.

Clemens hat das Ganze sogar in Zahlen gegossen. Die Literatur legt nahe, dass bis zu einer Wirtschaftsleistung von 6000 bis 8000 Dollar pro Kopf steigender Wohlstand zu mehr Migration führt. Zur Einordnung: Österreich kommt laut Weltbank derzeit auf etwa 55.000 Dollar pro Kopf im Jahr.

Fast alle Länder in Subsahara-Afrika liegen aber darunter. Das heißt: Die Erfahrung legt nahe, dass ein wohlhabenderes Afrika auch eines ist, aus dem mehr, nicht weniger Menschen wegziehen wollen werden.

Dazu kommt noch ein Problem: Dass Entwicklungshilfe überhaupt der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes hilft, lässt sich nach Jahrzehnten der Forschung zum Thema nicht belegen. Hilfe vor Ort reduziert dann die Migration, wenn die Ursachen für politische Konflikte bekämpft werden. Das lässt sich aber durch traditionelle Entwicklungshilfe, von der ja meist die Rede ist, nur schwer bewerkstelligen.

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