Wie viel Migration verträgt Österreich: In der politischen Arena ist das zu einer der Schlüsselfragen geworden. Aber was, wenn die größte Herausforderung woanders liegt und wir uns nicht Gedanken darüber machen sollten, ob wir zu viele sind, sondern darüber, dass wir zu wenige werden?

Das ist zumindest eine der möglichen Schlussfolgerungen aus einer Berechnung von Christian Helmenstein und Philipp Novak. Die Ökonomen bei der Industriellenvereinigung (IV) haben analysiert, wie sich die Zahl der Menschen, die dem Arbeitsmarkt in Österreich zur Verfügung stehen, über die kommenden Jahre verändern wird.

Ausgangspunkt dieser Analyse war eine Berechnung deutscher Wissenschafter, wonach in der Bundesrepublik wegen der Alterung der Gesellschaft in den kommenden zehn bis 15 Jahren fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen werden.

Helmenstein und Novak gingen davon aus, dass die Lücke in Österreich kleiner sein müsste. Schließlich sind gemessen an der Bevölkerung deutlich mehr Menschen nach Österreich eingewandert. Das liegt nicht an den Flüchtlingen, sondern an Arbeitsmigranten aus Osteuropa, aus Ungarn, Polen, Rumänien.

Die Überraschung

Doch dann folgte die Überraschung. Die Arbeitskräftelücke in Österreich ist aufgrund demografischer Entwicklungen ähnlich hoch wie in Deutschland. Als Basis für die Berechnung dient ein Blick auf die Bevölkerungsgruppe der aktuell 45- bis 54-Jährigen. Diese Menschen werden in den kommenden Jahren nach und nach in Pension gehen. Aktuell liegt das faktische Pensionsantrittalter bei etwa 60. Somit wäre die erwähnte Gruppe vom Arbeitsmarkt in spätestens 15 Jahren verschwunden.

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Was müssen Roboter in Zukunft erledigen?
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Das Pensionsantrittsalter ist zuletzt leicht gestiegen, und diese Entwicklung dürfte andauern. Womit es auch 15 bis 20 Jahre sein könnten. Das Problem bleibt gleich. Ins arbeitsfähige Alter nachrücken werden in derselben Zeit die Fünf- bis 14-Jährigen. Doch sie sind zu wenige. 543.000 Menschen fehlen hier, um die Pensionierungswelle der Babyboomergeneration zu ersetzen. Das entspricht mehr als zehn Prozent der Erwerbspersonen in Österreich.

Aber was sind die wirtschaftspolitischen Konsequenz daraus? Eine Möglichkeit ist, dass es gar kein Problem gibt. Seit Jahren kursieren Schätzungen dazu, wie viel Jobs wegen Digitalisierung und Automatisierung über die kommenden Jahre wegfallen werden. Doch die Entwicklung der vergangenen Jahre war in Österreich eine andere. Die Beschäftigung ist kontinuierlich gestiegen – und zwar zuletzt auch die Vollzeitbeschäftigung. Noch nie wurde in Österreich so viel gearbeitet. Belege für die Theorie, dass Jobs verschwinden, gibt es also nicht.

Boom oder Stagnation

Drei Entwicklungen erscheinen angesichts der Arbeitskräftelücke möglich: ein japanisches Szenario, ein doch noch einsetzender Produktivitätsboom oder Österreich lockt mehr Zuwanderer an.

Zum Japan-Szenario. Dort schrumpft die Bevölkerung seit zehn Jahren, und die Zahl der Arbeitskräfte geht zurück. Das wirkt sich auf die Wirtschaft aus: „Eine schnell alternde Bevölkerung und sinkende Erwerbszahlen hemmen das Wachstum“, stellte der Internationale Währungsfonds (IWF) in einem Bericht vor kurzem fest. Kein Wunder. Wachstum kann sich aus drei Quellen speisen: Arbeit, Kapital und Innovation.

Wenn die Zahl der Arbeitskräfte sinkt und dies nicht überkompensiert wird, kommt es zu Stagnation. Damit kein Missverständnis entsteht: Japan ist eines der wohlhabendsten und sichersten Länder der Erde. Aber die schrumpfende Bevölkerung trägt wesentlich zum stagnierenden Wohlstand bei. So könnte es Österreich auch ergehen.

Japans Gesellschaft wird rapide älter.
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Das zweite Szenario ist, dass die sinkende Zahl der Arbeitskräfte doch noch einen technologischen Boom auslösen wird. In den vergangenen Jahren hat der Beitrag von Innovation zum Wirtschaftswachstum gegen null tendiert.

Ökonomen können das Wachstum in Einzelteile zerlegen und so jenen Teil des Zuwachses errechnen, der nur darauf beruht, dass Unternehmen bessere Maschinen einsetzen, Arbeitnehmer mehr Know-how erwerben, dass die Gesellschaft also innovativer wird.

Ökonomen messen diesen Fortschritt mit einer Kennzahl, der Totalen Faktorproduktivität (TFP). Die Produktivitätssteigerungen sind aber in allen Industrieländern eingebrochen und auf dem tiefsten Wert seit 60 Jahren. So auch in Österreich (siehe Grafik).

Erklärungen dazu, warum es so ist, gibt es mehrere. Ein größerer Teil der Wirtschaft besteht aus Dienstleistungen. Hier sind Effizienzsteigerungen nicht so leicht zu erzielen wie in der Fabrik, wo sich alte Maschinen durch neuere ersetzen lassen. Eine andere Theorie lautet, dass der Welt die innovativen Ideen ausgegangen sind. Neue Apps und Smartphones mögen schön sein, bringen aber nicht mehr Wohlstand. Andere argumentieren, dass zu wenig in neue Technologien investiert wird.

Gehen uns die Menschen im arbeitsfähigem Alter aus?
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So oder so: Ökonom Helmenstein von der Industriellenvereinigung (IV) glaubt, dass der Arbeitskräfterückgang Österreich zwingen wird, innovativer zu werden. Unternehmen werden mehr in Forschung investieren müssen, und zwar auch bei Dienstleistungen. In Bereichen, in denen es bisher fremd erscheint, wird die Automatisierung zunehmen, glaubt Helmenstein.

Sein Beispiel: Pflege. Roboter könnten jenen Teil der Aufgaben übernehmen, wo es keinen direkten Kontakt mit Menschen braucht. Sie könnten Kontrollgänge durchführen oder Bettwäsche transportieren. Bringt der Arbeitskräfteschwund also Innovation?

Für die These spricht eine Studie des Ökonomen Joshua Mason vom New Yorker Roosevelt Institute. Mason argumentiert, dass Innovation immer dann zunimmt, wenn Löhne steigen. Unternehmen investieren dann mehr in Technologie, um bei Arbeit zu sparen.

Zuwanderer als Lösung?

Freilich gibt es Gegenargumente. Klaus Weyerstraß, Experte für Produktivitätsfragen vom Institut für Höhere Studien, sagt, dass es Japan trotz sinkender Bevölkerung nicht gelang, einen Innovationsboom zu entfachen. Und: Das Wirtschaftswachstum ebbt aktuell ab. Firmen werden wieder zurückhaltender investieren, was Innovationen hemmen dürfte.

Bleibt die dritte Möglichkeit: Österreich setzt auf mehr Zuwanderer. Aus den umliegenden EU-Ländern sind viele Arbeitskräfte da, die Industriestaatenorganisation OECD sagt, dass der Trend zu Auswanderung in Polen zum Beispiel schon abnimmt. Bleiben Länder außerhalb der EU.

Der Neos-Politiker Sepp Schellhorn sagt seit Jahren, dass Österreich eine Einwanderungsstrategie braucht. Die Rot-Weiß-Rot-Karte, die Drittstaatenangehörige beantragen können, sieht er als zu bürokratisch an. Tatsächlich kommen pro Jahr nur ein paar Hundert Menschen über die Karte.

Vorbild Kanada?

Als Vorbild nennt Schellhorn Kanada: Das Land wirbt Arbeitskräfte im Ausland an, lockt sie mit einer unbegrenzten Aufenthaltserlaubnis. Die Rot-Weiß-Rot-Karte bietet das nicht. Für einen Wandel müsste sich die politische Kultur in Österreich ändern, was Zuwanderung betrifft, sagt Schellhorn. Und wenn, wird Migration die Lücke verkleinern, aber nicht schließen können, sagen Schellhorn und Ökonom Helmenstein unisono. Dafür sei sie zu groß. (András Szigetvari 21.11.2019)