Studierende kennen das Gefühl: Es ist kurz vor Semesterende, man steckt mitten im Prüfungsstress, und die Abgabetermine für Essays oder Hausarbeiten rücken bedrohlich nahe. Man hat kaum geschlafen und hat vielleicht auch noch einen Aushilfsjob als Kellner, um die Miete oder die Studiengebühren zu bezahlen. Zeit und Geld sind knapp. Die Versuchung, einen Auftragsschreiber anzuheuern, ist groß.

Im Netz schießen sogenannte "Essay-Mühlen" ("essay mills") aus dem Boden, wo man Ghostwriter für ein paar Euro für das Verfassen einer Hausarbeit engagieren kann. Auf Plattformen wie Essay Shark lassen sich Auftragsarbeiten wie in einem Ikea-Katalog bestellen. Man wählt den Typ der Arbeit, zum Beispiel Zulassungsarbeit oder Dissertationskapitel, den Seitenumfang und die Deadline, schon bekommt man entsprechende Angebote. Je nach Komplexität des Themas und Qualifikation des Autors bezahlt man zwischen vier und 30 Dollar (rund 27 Euro) pro Seite. Der Autor "GrgPhD" hat zum Beispiel schon 638 Aufträge erledigt: Arbeiten aus den Themenbereichen Psychologie, Politikwissenschaft, Jus und Marketing.

Der Autor scheint ein Multitalent zu sein. In Rezensionen wird er durchwegs gelobt. Mit einer durchschnittlichen Bewertung von 9,95 gehört er zu den Top-Autoren. Die Rezensenten bescheinigen ihm Schnelligkeit und Gründlichkeit. Ein Kunde lobt: "Vielen Dank, Sie sind der beste Autor – so schnell fertig und kein Plagiat entdeckt. Ich komme beim nächsten Paper auf Sie zurück."

Auftragsbetrug

"Contract cheating" nennt sich dieses Phänomen, was übersetzt so viel wie Auftragsbetrug bedeutet. In Ländern wie Kenia und Indien ist eine regelrechte Industrie von Ghostwritern entstanden, die für ein paar Dollar englischsprachige Auftragsarbeiten für Studenten verfassen: Hausarbeiten, Essays, Zulassungsarbeiten, Diplomarbeiten. Industrielle Massenfertigung, Texte von der Stange, die den angelsächsischen Wissenschaftsbetrieb am Laufen halten. Eine Studie, die im Journal of Educational Studies erschienen ist, schätzt das Marktvolumen der Textindustrie auf 100 Millionen Dollar. Und der Markt wächst ständig weiter, weil immer mehr Hochschulen Arbeiten auf Englisch akzeptieren – oder sogar vor aussetzen. Das meiste Geld bleibt aber bei den Plattformen hängen, die 30 Prozent des Auftragsvolumens als Vermittlungsprämie kassieren. In Kenia kommt eine Ghostwriterin laut einem Bericht der New York Times auf einen Monatsverdienst von 320 Dollar.

Wie verbreitet das Ghostwriting ist, ist unklar. Eine Studie aus dem Jahr 2005 kam zu dem Ergebnis, dass in Nordamerika sieben Prozent der Bachelor-Sudenten ihre Arbeiten von fremden Federn schreiben ließen. Drei Prozent gaben an, Aufsätze von Essay-Mühlen im Netz bezogen zu haben. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegen könnte. Die australische Bildungsforscherin Cath Ellis schätzt, dass jedes Jahr Millionen Essays im Netz bestellt werden. Ein gigantischer Betrug.

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Ghostwriting ist in vielen Ländern Asiens zu einer regelrechten Industrie geworden.
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Für die Hochschulen ist das ein Problem, nicht nur, weil sich Studierende durch Kurse mogeln und Leistungspunkte erschleichen, sondern auch, weil die Schattenschreiberei am wissenschaftlichen Ethos kratzt. Bei jeder Hausarbeit müssen Studierende eine eidesstattliche Erklärung abgeben, in der sie versichern, dass sie die Arbeit eigenständig angefertigt haben. Die University of Toronto meldete im vergangenen Jahr 1000 Plagiatsfälle, weitere 600 Arbeiten sollen mit "unautorisierter Hilfe" erstellt worden sein.

Das US-Bildungssystem ist in diesem Jahr von einem Bestechungsskandal erschüttert worden, weil reiche Eltern durch Zahlung von Schmiergeldern ihren Sprösslingen eine Zulassung an Eliteuniversitäten sicherten. Die Auftragstäuschung ist aber noch einmal gravierender, weil es hier nicht bloß um Bestechung und Plagiate geht, sondern auch um die öffentliche Sicherheit und Gesundheit. Man stelle sich beispielsweise vor, eine Krankenschwester oder ein Pilot erschleicht sich durch gekaufte Aufsätze Scheine oder gar seinen Abschluss. Das gesamte Prüf- und Zulassungssystem drohte ins Wanken zu geraten. "Wenn wir nichts unternehmen, werden wir jede akkreditierte Universität in eine Diplomschleuder verwandeln", warnte die Integritätsbeauftragte der University of California, Tricia Bertram Gallant.

Die um ihren Ruf besorgten Hochschulen reagieren auf den öffentlichen Druck mit immer härteren Strafen. So hat die australische Regierung in diesem Jahr ein Gesetz verabschiedet, das den Schreibbetrug mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe von 210.000 australischen Dollars (umgerechnet 130.000 Euro) ahndet. Im Jahr 2015 hat die Immigrationsbehörde des Landes 9000 Studentenvisa wegen akademischen Fehlverhaltens storniert, nachdem eine chinesische Geschäftsfrau über die mittlerweile stillgelegte Webseite My Master Essays und Anleitungen für Online-Prüfungen vertrieben hatte.

Erst jetzt

Die Frage ist, warum der Schwindel nicht früher aufflog. Selbst wenn die Plagiatssoftware versagt, müsste einem Prüfer bei sorgfältiger Betrachtung der Betrug eigentlich auffallen. Stilistische und inhaltliche Schwächen sind leicht zu erkennen. Ein seriöser Ghostwriter kann in zwei, allenfalls in drei Disziplinen Arbeiten verfassen, die den Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens genügen. Es ist also möglich, dass die Textfabriken auch die lückenhaften Prüf- und Dokumentationsprozesse an Hochschulen entlarven.

Im Jahr 2005 erstellten drei MIT-Studenten mit einem von ihnen entwickelten Textgenerator einen Nonsense-Aufsatz mit weitgehend erfundenen Zitaten und Grafiken und reichten ihn bei der World Multiconference on Systemics, Cybernetics and Informatics (WMSCI) ein, einer Konferenz, die für ihre laxen Prüfverfahren bekannt war. Die Publikation wurde akzeptiert – die Veranstalter waren bloßgestellt. Man mag sich besser nicht vorstellen, was passiert, wenn Studenten künftig auf KI-Systeme zurückgreifen, die eigenständig Aufsätze sampeln – und schreiben. Durch die Inflationierung von Texten könnten am Ende nicht nur Abschlüsse, sondern auch Ideen entwertet werden. (Adrian Lobe, 9.12.2019)